COVID-19: Fatale Folgen für indigene Gemeinschaften

Die Lebensgrundlage vieler indigener Gemeinschaften wird durch multinationale Konzerne und deren neokolonialen Ressourcenausbeutung bedroht. Wenn die Indigenen mit prekären Lebensbedingungen einer Pandemie wie aktuell der COVID-19 ausgesetzt sind, hat das fatale Folgen. Oftmals wird der Virus durch die Ausbeuter*innen verbreitet oder die Menschen sind aufgrund ihrer prekären Situation nicht in der Lage, sich vor einer Ansteckung zu schützen.

In den Schulbüchern über die sogenannte „Conquista“, die imperiale Erschliessung des mittel- und südamerikanischen Festlandes durch die spanische Krone im 16. Jahrhundert, wird oftmals ein Eroberungsmythos wiedergegeben. Diese Erzählung basier meist auf Abenteuergeschichten  und dabei wird in Gut und Böse unterteilt. Die siegreichen spanischen Feldzüge in Unterzahl gegen die Grossreiche der Azteken, Inkas und Mayas werden als heldenhaft beschrieben. Dabei wird die erhebliche Rolle der Pocken-, Masern-, Grippe- und Lungenpesterreger, welche die spanischen Streitkräfte und ihre mitgebrachten Tiere eingeführt haben, kaum erwähnt. Denn diese Krankheiten rafften innerhalb weniger Jahre einen Grossteil der Bevölkerung hinweg und begründeten die erfolgreiche Erschliessung von Kolonien durch die spanischen Streitkräfte (mehr zur eurozentrischen Perspektive auf die Conquista in „Geschichtsmythen über Hispanoamerika“, 2013). Auch die Articulação dos Povos Indígenas do Brasil (APIB), die Dachorganisation der indigenen Gemeinschaften Brasiliens, beruft sich in ihrem Aufruf zur aktuellen COVID-19-Krise auf die historische Entwicklung und betont dabei die Bedeutung der von aussen herangetragenen Epidemien (siehe „The Brazilian government must present a plan for prevention and care to avoid risks of Coronavirus contamination in indigenous territories“, 20.3.2020):

Throughout history, we have always been the victims of successive invasions not only by the use of physical violence, firearms and forced labor, but also through the diseases carried by invaders, such as the flu, smallpox and measles, even in the 20th century, particularly during the military dictatorship.

Die COVID-19-Pandemie lässt diese blutige Geschichte der indigenen Gemeinschaften wieder aufleben: In Brasilien haben sich bereits 9`294 Indigene mit dem Virus angesteckt, 383 davon starben (Stand 29.6.2020; siehe Greenpeace 29.6.2020). Auch multinationale Konzerne spielen mit der neokolonialen Ausbeutung von Ressourcen und Menschen im Globalen Süden eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung des Virus.

Brasilien: Angriff auf die indigene Gemeinschaften

Ende 2019 deckte Amazon Watch auf, dass die Schweizer Grossbank Credit Suisse die vier weltgrössten Agrarhändler Cargill, Bunge, Louis Dreyfus und Archer Daniels Midland mitfinanziert. Diese finanzierten Konzerne gehören zu den grossen Profiteuren der heftigen Waldbrände des Sommers 2019. Satellitenbilder zeigen illegale Brandrodungen in einem Gebiet des Regenwaldes, von welchem die vier Agrarhändler Getreide beziehen und es über ihre Handelsplattformen in Genf verkaufen (für mehr Informationen siehe SonntagsZeitung, 20.10.2019).

Der Agrarhandel und die illegale Abholzung des Regenwaldes stellen eine massive Gefährdung der Lebensgrundlage der indigenen Völker Brasiliens dar.  Die Gefährdung verschärft sich durch die COVID-19-Krise zunehmend, wie es das Beispiel der Munduruku, einer indigenen Gemeinschaft im brasilianischen Bundesstaat Pará, eindrücklich zeigt (siehe WOZ, 4.6.2020):

  • Lohnarbeit statt Selbstversorgung: Die Stadt Itaituba ist immer näher an das indigene Dorf mit 125 Einwohner*innen herangerückt. Das starke Wachstum von Itaituba ist auf den Sojaverladehafen zurückzuführen, der mittlerweile zu einem der grössten Häfen Brasiliens geworden ist. Alessandra Munduruku, Sprecherin der indigenen Gemeinschaft, beschreibt deren Lage deshalb folgendermassen (siehe WOZ, 4.6.2020): „Wir leben immer bedrängter.“  Die Jagd oder das Sammeln von Früchten sind eingeschränkt, da der Wald zusehend verschwindet. Auch das Fischen auf dem Rio Tapajós ist nicht mehr möglich, weil dort die riesigen Schubverbände der Sojakonzerne navigierten. Die Menschen aus ihrer Gemeinschaft sehen sich gezwungen, in Itaituba zu arbeiten und setzen sich und alle anderen der Gefahr aus, sich mit COVID-19 zu infizieren.
  • Illegale Holzfäller als Wegbereiter für den Virus: Trotz Pandemie dringen illegale Holzfäller in den Regenwald ein. Bald darauf folgen ihnen auch Viehzüchter oder Goldgräber, deren Präsenz in den Reservaten ein weiterer Faktor für die Ausbreitung des Coronavirus ist.
  • Politische Schachzüge gegen die indigenen Völker: Brasiliens Umweltminister Ricardo Salles empfahl während einer Kabinettssitzung Ende April, dass nun der ideale Zeitpunkt sei, um „die Viehherde“ unbemerkt vorbeizutreiben. Die Krise soll dazu genutzt werden, umstrittene Gesetze durchzubringen wie beispielsweise eine Amnestie für Landräuber*innen im Amazonasbecken. Die Abholzung nahm in den ersten vier Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 51 Prozent zu. Im April verzeichnete sie einen Sprung um 171 Prozent. Laut dem Weltrauminstitut Inpe ist dies der stärkste Anstieg der letzten zehn Jahre. Besonders betroffen von der Entwaldung: die „terras indígenas“, die indigenen Territorien.
  • Rassistische Gesundheitspolitik: Die grosse Verwundbarkeit der Ureinwohner*innen liegt auch daran, dass viele ihrer Gemeinden geografisch isoliert sind – sie liegen durchschnittlich 315 Kilometer vom nächsten Gesundheitszentrum entfernt. Ausschlagebend ist jedoch, dass der Staat den Menschen dieser Gemeinden lebenswichtigen Leistungen verweigert. Es gibt zwar einen eigens für Ureinwohner*innen zuständigen Gesundheitsdienst, dieser ist aber auch in der Coronakrise unterfinanziert. So hat beispielsweise die Indiobehörde Funai umgerechnet über zwei Millionen Franken zur Bekämpfung der Pandemie wochenlang nicht weitergeleitet – stattdessen hat sie neue Fahrzeuge gekauft. Laut ist für solche nicht nachvollziehbare Massnahmen der Rassismus der Regierung des rechtsextremistischen Präsidenten Jair Bolsonaro verantwortlich, weil dieser die Führungsposten wichtiger Behörden nach ideologischer Linientreue besetzt hat.

Alle diese Faktoren tragen dazu bei, dass circa 80 der 305 verschiedenen indigenen Gemeinschaften Brasiliens bereits von COVID-19 betroffen sind (Stand: 4.6.2020). Diese Pandemie lässt auch ein historisches Trauma aufleben: Seit der Kolonisation haben Krankheiten wie die Masern die Ureinwohner*innen immer wieder dezimiert und manche Gemeinschaft ausgelöscht. Kampflos ergeben sich die Gemeinschaften nicht: Zum Beispiel verteidigen sich die 12 ’000 Mura im Bundesstaat Amazonas, indem sie sich komplett isolieren und die Strassen blockieren. Sie sind jedoch auf Spenden durch NGOs, die Kirchen und die Zivilgesellschaft angewiesen, um diese Verteidigung aufrechtzuerhalten.

Kolumbien: Prekäre Lebensbedingungen der Gemeinschaften in der Nähe von Glencores Kohlemine El Cerrejón

Auch die Wayuu- und afrokolumbianische Gemeinschaften in Guajira, einem Department im äussersten Nordosten Kolumbiens, sind auf finanzielle Unterstützung angewiesen (siehe für Unterstützungsmöglichkeiten die von der Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien initiierte Crowdfunding-Aktion auf der Plattform gofundme). Diese Gemeinschaften leiden besonders unter der COVID-19-Krise, da sie aufgrund der Nähe zu El Cerrejón nur prekären Zugang zu Wasser haben. El Cerrejón ist der grösste Steinkohletagebau Lateinamerikas. Sie gehört zu einem Drittel dem Schweizer Rohstoffkonzern Glencore (mehr zu den Auseinandersetzung rund um El Cerrejón in der MultiWatch-Falldokumentation). Glencores Kohlemine bietet den Gemeinschaften in Guajira schlechte Voraussetzungen für den Kampf gegen die Ausbreitung von COVID-19, da sich ohne Wasser die Prävention gegen COVID-19, u.a. häufiges Händewäschen, schwierig gestaltet. Die Gemeinschaften wurden von El Cerrejón vertrieben und ihrer Wasserquellen beraubt. Tausende Familien müssen nun das Trinkwasser teuer einkaufen. Die Anwohner*innen der Mine leben mehrheitlich in Armut uns sind darauf angewiesen, ihr prekäres Einkommen täglich als Tagelöhner*innen oder mit informellen Geschäften sicherzustellen – ähnlich wie die Munduruku müssen auch sie sich der Gefahr, angesteckt zu werden, exponieren. Erschwert wird die Situation durch die von der Regierung verhängte Ausgangssperre, um die Ausbreitung von COVID-19 zu stoppen. Diese Ausgangssperre führt jedoch zu einer existenziellen Notlage, zumal Hamsterkäufe dazu führen, dass die Preisen explodieren. Die Massnahmen des rechten Präsidenten Iván Duque treffen aber nicht nur indigene Gemeinschaften, denn die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung Kolumbiens ist im informellen Sektor tätig und aufgrund der extremen Ausgangssperre von Armut und Hunger betroffen (siehe WOZ, 18.6.2020). Iván Duque nutzt die Pandemie, um mit dem Militär Hüttensiedlungen, die ohne Genehmigung errichtet wurden, zu räumen oder auch um den 2016 unterzeichneten Friedensvertrags mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (Farc) zu umgehen. Seit die Ausgangssperre ausgesprochen wurde, sind in Kolumbien schon mindestens 32 Menschenrechtler*innen ermordet worden. Die oft mit dem Militär kooperierenden ultrarechten Paramilitärs nutzen diesen Ausnahmezustand und der kolumbianische Präsident hüllt sich in Schweigen. Das Beispiel der Wayuu- und afrokolumbianischen Gemeinschaften in Guajira zeigt, dass Menschenrechte nicht nur durch die rechte Regierung, das Militär und die Paramilitärs verletzt werden, sondern auch durch multinationale Konzerne wie Glencore. Dadurch verschärft sich die Situation gerade für die armutsbetroffenen Bevölkerungsschichten wie die indigenen Gemeinschaften während COVID-19.

Ecuador: Die von den Folgen der Tätigkeiten des Ölkonzerns Chevron betroffenen indigenen Gemeinschaften werden heute stark vom Coronavirus geschwächt 

Dass die indigene Bevölkerung auch lange nach dem Wegzug eines multinationalen Konzerns die Folgen spürt, zeigt die verbrannte Erde, welche der US-amerikanische Energiekonzern Chevron in verschiedenen Regionen der Welt hinterlassen hat. Chevron ist einer der weltweit grössten Ölkonzerne und ist in über 180 Ländern tätig. Im ecuadorianischen Amazonasgebiet hat der damals noch unter dem Namen „Texaco“ bekannte Konzern von den 1960er Jahren bis 1992 Erdöl gefördert. In dieser Zeit hat der Ölkonzern mit seinen Tätigkeiten die Umwelt vergiftet, was nicht ohne Folgen für die indigenen Gemeinschaften geblieben ist: Krankheiten und Todesfälle häuften sich (mehr Informationen dazu auf der Website der UDAPT)! Die Unión de Afectados y Afectadas por las Operaciones Petroleras de Texaco (UDAPT; mehr Informationen unter UDAPT) organisiert die betroffenen Gemeinschaften. Lidia Aguinda, Mitglied der UDAPT, erklärt (siehe Medienmitteilung u.a. der UDAPT, 26.5.2020):

The crime caused by their oil company is here. Many people continue to die every year with cancer. Our struggle will continue until they pay us what they owe us so that we can repair all the damage caused to the Amazon. We are not going to give up on this battle until we have full access to justice.

Diese rücksichtslose Ausbeutung führte zu einem Rechtsstreit von über 18 Jahren (!) – im Februar 2011 wurde Chevron am Provinzgericht von Lago Agrio endlich zu einer Strafe von zunächst 8,6 Milliarden US-Dollar verurteilt. Das war die höchste Strafe, die jemals gegen einen Ölkonzern wegen Umweltschäden verhängt worden war. Der Konzern liess dies nicht auf sich ruhen und zog den Beschluss weiter – der Ständige Schiedshof in Den Haag erklärte schlussendlich im September 2018 das ecuadorianische Urteil für ungültig, u.a. weil das Urteil gegen ein Investitionsschutzabkommen von Ecuador mit den USA verstiess. Anlässlich der virtuellen Generalversammlung von Chevron, welche am 27. Mai 2020 stattgefunden hat (siehe Website von Chevron), gingen verschiedene indigene Gemeinschaften aufgrund ihrer kritischen Situation im ecuadorianischen Amazonas, im Niger Delta und im argentinischen Teil Patagoniens mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit (siehe Medienmitteilung u.a. der UDAPT, 26.5.2020):

As a result of oil exploitation, we have lost the main means of subsistence of our peoples, such as hunting;  fishing; gathering; harmonious life and spiritual development. Everything has been disrupted, interrupted by Chevron’s operations. That is why today we are in a worse position to face the crisis of the pandemic. This worldwide humanitarian crisis is an exhortation of nature towards changes, towards forms of life, towards stopping the environmental damages. We would have been in a better situation, if we had not had that oil aggression which we are facing every day.

Ähnlich wie die verschiedenen Gemeinschaften sind auch die indigenen Völker im Niger Delta und im argentinischen Teil Patagoniens betroffen.

Verletzlichkeit der indigenen Gemeinschaften in der COVID-19-Krise als Ausdruck eines systematischen Rassismus

Es ist nicht zufällig, dass gewisse Gruppierungen wie die indigenen Gemeinschaften verletzlicher gegenüber dem Coronavirus sind. Es ist ein Resultat einem systematischen Rassismus, der sowohl in westlichen Ländern als auch ich im Globalen Süden die Gesellschaft strukturiert und hierarchisiert. Die Menschen aus den indigenen Völker sind ganz unten in der Hierarchie: Ihre Kultur wird nicht akzeptiert, ihre Lebensgrundlagen wird ihnen geraubt und in der COVID-19-Krise kommt nochmals verstärkter zum Ausdruck: Ihr Leben zählt weniger. Die Profiteure dieses systematischen Rassismus sind die multinationalen Konzerne, die mit prekärer Arbeit Profite erzielen oder sich Zugang zu den Ressourcen der indigenen Bevölkerung verschaffen. In der Tradition der Conquista errichten sie bis heute neokoloniale Strukturen. Unsere Aufgabe ist es diese Strukturen offenzulegen und zu bekämpfen, indem wir uns mit den indigenen Gemeinschaften solidarisieren. Ihr Kampf muss zwingend auch unser Kampf sein.

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