COVID-19: neoliberaler Wettlauf um ein Gegenmittel

Am 16. März 2020 erklärte der Bundesrat aufgrund der COVID-19 (der Virus wird SARS-CoV-2 genannt) Pandemie die „ausserordentliche Lage“ und legte damit einen grossen Teil des öffentlichen Lebens in der Schweiz lahm. Eine vollständige Normalisierung des gesellschaftlichen Lebens insbesondere für Menschen, die ein Risiko für einen schwerwiegenden Krankheitsverlauf haben, wird erst einkehren, wenn ein wirksamer Impfstoff* gegen COVID-19 entwickelt worden ist. Grund genug, einen kritischen Blick auf die Impfstoffforschung zu werfen, insbesondere weil für die medizinische Forschung zunehmend eine neoliberale Marktlogik angewendet wird.

* Aber das beste Gegenmittel gegen Pandemien ist, wenn diese erst gar nicht entstehen würden (nicht zuletzt auch wegen den allfälligen Nebenwirkungen von Impfstoffen). Siehe dazu auch unserer Artikel zur kapitalistische Landwirtschaft als Ursprung von Epidemien.

“There ist no such thing as society” (auf Deutsch: “So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht”). Diese von Margret Thatcher, Premierministerin Grossbritanniens, getätigte Aussage spielt die Bedeutung der Gesellschaft herunter und gibt das Leitprinzip des neoliberalen Projekts wieder: An Stelle der Gesellschaft bestimmt der Markt, was eine Existenzberechtigung hat und was nicht. Dieses Leitprinzip scheint sich zumindest auch in der medizinischen Forschung der grossen Pharmakonzerne durchgesetzt zu haben. So setzen diese beispielsweise mehr auf lukrative Gentherapien in der Onkologie als auf die Impfstoffforschung, deren grosse gesellschaftliche Bedeutung nicht zuletzt durch die aktuelle COVID-19-Krise aufgezeigt wird. Wir wollen mit dem folgenden Artikel der versäumten Impfstoffforschung vor der COVID-19-Krise auf den Grund gehen, den Wettlauf um Therapien für COVID-19 (neben Impfstoffen gibt es verschiedene Medikamente, die zum Einsatz kommen) kritisch beleuchten und uns fragen, wie wir unsere medizinische Forschung verändern müssen, um in Zukunft besser gegen solche Krisen gewappnet zu sein.

 

Die verpönte Impfstoffforschung im neoliberalen Zeitalter

Mit einem wirksamen Impfstoff könnten sich Menschen präventiv gegen COVID-19 schützen: Denn ein Impfstoff animiert den Körper, Abwehrmoleküle gegen Krankheitserreger zu produzieren. In den letzten zwei Jahrzehnten kam es bereits vor COVID-19 zu mehrerer internationalen Virusausbrüchen (siehe The Guardian, 4. März 2020). Mit SARS und MERS handelte es sich auch zwei Mal um Coronaviren. Trotz des vermehrten Auftretens von Viren und deren Warncharakter (siehe hierzu auch den kritischen Kommentar von Prof. Dr. med. Dr. h.c. Paul Robert Vogt in Die Mittelländische, 7. April 2020), kam die Impfstoffforschung in der Zeit vor COVID-19 kaum erfolgreich ins Rollen. Ende 2018 verzeichneten die 20 grössten Pharmakonzerne keine Projekte zu Corona-Viren, während die Hälfte ihrer Forschungs- und Entwicklungsprojekte auf Krebs abzielten (siehe Access to Medicine Index 2018). Beispielhaft für diese Tendenz ist, dass sich der Basler Pharmakonzern Novartis im Jahr 2014 aus der Impfstoffforschung verabschiedete. Woran liegt das?

  • Hohe Anforderungen für Impfstoffe: Die Entwicklung von Impfstoffen gilt als besonders teuer, weil sie gesunden Erwachsenen und Kindern verabreicht werden (siehe SRF, 6.3.2020). Deshalb müssten besonders hohe Sicherheitsstandards bei den Tests angewendet werden, was wiederum die Zeit von der klinischen Entwicklung zum Versuch an Menschen und auch zur Marktreife verlängert. Die zusätzliche Dauer bringt auch hohe Kosten mit sich. Mit zunehmender Neoliberalisierung der medizinischen Forschung werden vermehrt Behandlungen bevorzugt, deren aussermarktliche Testphase („pre-market product testing”) verkürzt ist und bei denen sich die klinischen Tests auf die Phase verschiebt, in der die Medikamente bereits auf dem Markt sind („post-market surveillance of `real world` patients“) – ein Beispiel hierfür sind die (neuen) individualisierten Gentherapien. Denn bereits bei den Forschungsinhalten soll der Markt spielen und sich nur diejenigen Inhalte durchsetzen („marketplace of idea“), für welche auch eine zahlungskräftige Nachfrage besteht (siehe Neoliberalism on Drugs: Genomics and the Political Economy of Medicine, Januar 2018).
  • Diese zahlungskräftige Nachfrage tritt bei Impfstoffen oftmals erst bei Ausbruch einer Epidemie auf. Selbst wenn die Forschungsarbeit für einen Impfstoff während einer Epidemie beginnt, wird die Arbeit oft dann eingestellt, wenn die Krise abgeklungen ist. Der Forschungsfortschritt wird so lange auf Eis gelegt ist, bis das nächste Mal eine ähnliche Infektion auftritt (siehe The Guardian, 4. März 2020). Nach Abklingen einer Epidemie fliessen kaum noch privatwirtschaftliche Mittel: So gab es vor der COVID-19-Krise kaum Investitionen in den Kampf gegen Coronaviren (siehe Swissinfo, 11.3.2020).
  • Mangel an Interesse durch Pharmakonzerne: Nur wenige grosse Konzerne sind weiterhin in der Lage, einen Impfstoff von Anfang bis Ende zu entwickeln und herzustellen, teils aufgrund der Kosten und des Zeitrahmens, teils weil sie die Patente auf Herstellungsprozesse konsolidiert haben – eine Situation, die Analyst*innen offen als Oligopol kritisieren (siehe The Guardian, 4. März 2020).

Bei der Impfstoffforschung und -entwicklung handelt es sich um ein stark marktabhängiges System. Ein System, das sich als unzweckmässig für Epidemien erweist, wie sich aktuell an der COVID-19 Krise aufzeigen lässt: Wäre das SARS-Impfstoffforschungsprogramm konsequent weitergeführt worden, stünden die Forscher*innen bei der Grundlagenforschung viel näher bei einer Entwicklung eines Impfstoffs gegen COVID-19, welches eng verwandt ist mit dem SARS Virus, als sie es beim Zeitpunkt des Ausbruchs von COVID-19 waren (siehe The Guardian, 4. März 2020). Zwar dauern klinische Studien mindestens ein Jahr und können nur durchgeführt werden, wenn infizierte Menschen vorhanden sind, aber die Aufrechterhaltung der Grundlagenforschung zu Viren, von denen bekannt ist, dass sie ein epidemisches Potenzial haben, bedeutet, dass die Forscher*innen nicht jedes Mal bei Null anfangen, wenn eine neuartige Variante auftaucht.

Der aktuell zu beobachtende Wettlauf um einen Impfstoff gegen COVID-19 ist folglich bereits mit schlechten Voraussetzungen gestartet ist, weil nicht gesellschaftliche, sondern marktwirtschaftliche Interessen die Forschungsinhalte bestimmen.

 

Mittel gegen COVID-19 (1): Wettlauf um einen Impfstoff

Stand die Impfstoffforschung in Bezug auf Coronaviren lange Zeit still, gab es nach dem Ausbruch der COVID-19-Krise einen Startschuss zu einem regelrechten Wettlauf um einen Impfstoff gegen COVID-19. Bereits am 10. Januar 2020 veröffentlichten Forscher*innen aus China die genetische Sequenz des Erregers – und Impfstoff-Entwickler machten sich weltweit an die Arbeit. Nach Zählung der Weltgesundheitsorganisation werden weltweit 83 COVID-Impfstoff-Projekte vorangetrieben (siehe DRAFT landscape of COVID-19 candidate vaccines; Stand: 23. April 2020). Die Anzahl der Projekte steigt stetig. Was hat sich verändert, dass die Impfstoffforschung so rasch an Dynamik gewonnen hat?

  • Kleinere, wenig bekannte Unternehmen füllen das Vakuum in der Impfstoffforschung: Obwohl die Impfstoffforschung bereits vor einem Virusausbruch Investitionen für wertvolle Grundlagenarbeit benötigen würde, reagiert der Markt erst bei Ausbruch der Krise. Die Entdeckung eines Impfstoffs gegen COVID-19 verspricht grosse Gewinne. Das neoliberale Projekt von einem „marketplace of idea“ (siehe Neoliberalism on Drugs: Genomics and the Political Economy of Medicine, Januar 2018) scheint sich in der Krise zu akzentuieren: Bereits das blosse Kommunizieren des Vorhabens, einen Impfstoff zu entwickeln, liess den Aktienkurs etlicher Unternehmen in die Höhe schnellen. Dabei handelt sich häufig um kleinere Biotechunternehmen wie Vaxart, Novovax oder Inovio (siehe Swissinfo, 11.3.2020). Die generierten Wertsteigerungen an den Aktienmärkten trügen jedoch: So schnell wie der Aktienkurs gestiegen ist, kann er auch wieder sinken, sollten sich die Ankündigungen als leere Blase erweisen oder auch nur andere Unternehmen auf dem „marketplace of idea“ schnellere Fortschritte machen. Die Investition in die Impfstoffforschung verkommt folglich zu einem Risikokapital und der Wettlauf um einen COVID-19-Impfstoff wird von Spekulationen an der Börse begleitet.
  • Hier bahnen sich auch Kooperationen zwischen den Biotechunternehmen und grossen Konzernen an: Biontech aus Mainz (Deutschland) geht eine Kooperation mit dem US-Pharmakonzern Pfizer und der chinesischen Fosun ein, um überhaupt klinischen Tests durchführen zu können (siehe Handelszeitung, 24.4.2020).
  • Beschleunigtes Testverfahren: Aufgrund der Dringlichkeit erodieren zudem die hohen Sicherheitsstandarts bei den Impfstofftests in der Krise. Die „aussermarktliche Testphase“ (siehe Neoliberalism on Drugs: Genomics and the Political Economy of Medicine, Januar 2018) verschwindet fast ganz. Vertreter*innen öffentlicher Forschungseinrichtungen und Pharmakonzerne einigten sich auf einem WHO-Treffen Mitte Februar darauf, dass Versuche an (gesunden) Menschen schon beginnen sollten, bevor alle vorhergehenden Schritte abgeschlossen sind (mehr dazu im Artikel „Wettrennen mit dem Virus“ von der Süddeutschen Zeitung, 4. April 2020). Kritiker*innen warnen, dass durch diese Beschleunigung eventuell gefährliche Nebenwirkungen unbemerkt blieben. Zudem können einige Konzerne die Situation ausnutzen, um experimentelle Technologien auf den Markt zu drücken, die unter normalen Umständen nicht bestehen könnten (siehe Spiegel-Artikel „30473 rettende Zeichen“, 21. März 2020 und WOZ, 9. April 2020). So überrascht es kaum, dass das Biotech-Unternehmen Moderna aus Cambridge, Massachusetts (USA), mit dem als „mRNA-1273“ bezeichnete Impfstoff gegen COVID-19 schon ziemlich früh im medialen Rampenlicht stand: Bereits Ende Februar wurde eine erste Charge eines möglichen SARS-CoV-2-Impfstoffs ausgeliefert (siehe Handelszeitung vom 11. März 2020) und am 15. März bekam eine Testperson in einem medial viel beachteten Ereignis den Impfstoff verabreicht.
  • Nationalstaatliches Werben um Impfstoff-Unternehmen: Bereits vor der COVID-19-Krise gab es einen Standortwettbewerb um Pharmakonzerne, in welchem Nationalstaaten oder Wirtschaftsregionen mit Vorzugsbedingungen um Konzerne buhlten (siehe Schwarzbuch Syngenta von MultiWatch; „Chemiestadt Basel: Eine unheilige Allianz mit Syngenta“). In der Krise scheint sich dieses Verhalten auf absurde Weise zu zuspitzen: So hat US-Präsident Trump den Konzern CureVac aus Tübingen (Deutschland) Anfang März als einzigen nicht US-amerikanischen Konzern zu einem Corona-Krisengipfel mit ins Weisse Haus eingeladen. Die Begeisterung des US-Präsidenten für CureVac war so gross, dass er CureVac angeblich für eine Milliarde Dollar kaufen wollte. Heftige Reaktionen folgte aus dem Land, in welchem CureVac den Hauptsitz hat: „Deutschland steht nicht zum Verkauf“, erklärte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (mehr dazu im Spiegel-Artikel „30473 rettende Zeichen“, 21. März 2020). Der Verkauf hätte ohnehin gestoppt werden können. Denn zur Vermeidung von „Sicherheitsgefahren“ kann das Bundeswirtschaftsministerium den Erwerb deutscher Konzerne durch ausländische Käufer*innen prüfen und im Zweifel untersagen.

In der COVID-19-Krise wird die Impfstoffforschung in einem rasanten Tempo hochgefahren und Massnahmen getroffen, welche den Anliegen des neoliberalen Projekts entgegenkommen. Es gibt jedoch auch Entwicklungen, die der neoliberalen Ideologie diametral entgegenstehen – nämlich die zahlreichen Kooperationen auf dem Weg zu einem medizinischen Mittel gegen COVID-19 (siehe SRF, 18 April 2020). Jedoch müssen auch diese Kooperationen kritisch betrachtet werden. Denn viele Forscher*innen an öffentlichen Institutionen sind mit einer eigenen Firma am Start oder mit privaten Unternehmen assoziiert (siehe WOZ, 9. April 2020). Ganz nach der neoliberalen Ideologie: Das Wissen befindet sich weder bei einzelnen Personen noch in Händen einer autonomen Gemeinschaft von Forscher*innen, sondern auf dem Markt – Motto dabei lautet: “So etwas wie eine Forschungs-Gesellschaft gibt es nicht”. Neoliberale Institutionen (international nennenswert ist z.B. das neoliberale Elitenetzwerk Mont Pèlerin Society) wirken seit geraumer Zeit auf Zulassungsbehörden ein, um Kooperationen unter dem Deckmantel der Wettbewerbsverzerrung zu verhindern (siehe Neoliberalism on Drugs: Genomics and the Political Economy of Medicine, Januar 2018). Die internationale Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI) ist eine Institution, die nichtsdestotrotz versucht, in Bezug auf die Impfstoffforschung eine „Forschungs-Gesellschaft“ aufzubauen und die auch die vorhergehend erwähnten Konzerne Moderna und CureVac unterstützt. Finanziert wird die in Norwegen beheimatete Institution von Regierungen und Stiftungen. Ziel ist es, die Aufmerksamkeit der Forschung auf potenziell epidemische Krankheitserreger zu lenken und breitere Therapien zu entwickeln, die auf verschiedene Virusvarianten zugeschnitten werden könnten (siehe The Guardian, 4. März 2020). Auch die CEPI kritisiert das Desinteresse der Pharmakonzerne an der Impfstoffforschung und konstatiert, dass Kooperationen kaum möglich seien: Sie hat grosse Mühe, Pharmakonzerne als Partner zu gewinnen, da diese auf grosse Gewinne pochen und exklusive Eigentumsrechte einfordern (siehe Swissinfo, 11.3.2020). Um dem Desinteresse entgegenzuwirken, hat die CEPI in den vergangenen Jahren ihre Förderungskriterien immer weiter gesenkt, so dass die Unternehmen ihre Produkte inzwischen nach Belieben vermarkten können. So bezahlen die Patient*innen unter Umständen drei Mal: für die Grundlagenforschung, für das Marketing der Konzerne und für den Impfstoff (siehe WOZ, 9. April 2020).

Insgesamt acht verschiedene Impfstoff-Funktionsweisen werden gegen COVID-19 getestet. Diese verfügen über verschiedene Stärken und Schwächen. Welche gegen COVID-19 am besten wirkt, lässt sich erst im Laufe der Tests beurteilen, deshalb ist es ein Vorteil, die verschiedenen Funktionsweisen koordiniert zu erproben (siehe für Informationen zu den Funktionsweisen von Impfstoffen im Artikel „Wettrennen mit dem Virus“ von der Süddeutschen Zeitung, 4. April 2020).

 

Mittel gegen COVID-19 (2): antivirale Medikamente

Neben den klassischen Impfstoffen werden antivirale Medikamente getestet (siehe NZZ, 2. April 2020). Antivirale Medikamente bekämpfen die Viruslast bei einer Infektion. Erst die hohe Virusmenge führt zu schweren Lungenentzündungen und späterem Organversagen. Auch bei der Entwicklung von antiviralen Medikamenten lassen sich neoliberale Entwicklungen beobachten:

  • Am häufigsten mit einem direkten antiviralen Medikament ist Gilead Sciences aus Foster City, Kalifornien (USA), in den Schlagzeilen – mit ihrem Wirkstoff Remdesivir. Die Wirkstofftestung hat Gilead Sciences bereits anfangs Februar in Zusammenarbeit mit chinesischen Mediziner*innen in Wuhan begonnen. Erste Labortests zeigten, dass Remdesivir effektiv das neuartige Coronavirus bekämpft. Weitere Ergebnisse sollen aus den Tests an 1000 teils schwer erkrankten COVID-19-Patient*innen im April folgen (siehe Die Zeit, 18. März 2020). Dabei liegen die Hoffnungen auf einem Konzern, der sich nicht gerade durch seine Wohltätigkeit auszeichnet: Gilead Science verlangen für ihr Hepatitis C Medikament Sovaldi Wucherpreise, sodass in der Schweiz an Stelle einer Preissenkung dessen Einsatz in einer umstrittener Massnahme durch das Bundesamt für Gesundheit rationiert wurde (siehe Denknetz-Arbeitspapier „Toxic Pharma“, 12.12.2016). Kontrovers wird auch der Wirkstoff selber diskutiert: Remdesivir kam für die Ebola Bekämpfung der Epidemien 2014 und 2016 in Frage, wurde aber fallengelassen, nachdem Patient*innen an den Tests starben (siehe nau.ch, 1. April 2020). Nichtsdestotrotz wird das Medikament von Gilead Sciences bereits im sogenannten „Compassionate Use“ verwendet: Aufgrund fehlender, wirksamer Präparate, greifen die Ärzt*innen bei zahlreichen schweren COVID-19-Fällen auf Remdesivir zurück (siehe nau.ch, 1. April 2020). Wie der Konzern tickt, zeigt ihr Vorgehen bei der Zulassung: Zunächst wollten sie das Mittel auf dem Zulassungspfad einer „Orphan Drug“ testen. Eine solche Zulassung sollte dem Konzern sieben Jahre exklusive Vermarktung sichern (siehe NZZ am Sonntag, 28. März 2020). Aufgrund heftiger Proteste liess sich Gilead Sciences von diesem Plan abbringen. Doch auch so wird sich Gilead Sciences bei allfälligem Erfolg eine goldene Nase verdienen: Die Demokrat*innen scheiterten im Kongress, Preisbeschränkungen einzuführen. Der Ruf nach Preisbeschränkungen wurde lauter, da die Pharmakonzerne auch von einem Teil des 8,3 Milliarden Dollar US-Hilfspakets profitieren (siehe Republik, 2. April 2020).
  • Das bereits 1934 entwickelte Chloroquin wird ebenfalls als vielversprechendes antivirales Medikament gegen COVID-19 gehandelt. Ursprünglich wurde es zur Vorbeugung von Malaria entwickelt und ist u.a. in den Generika von der Novartis-Tochter Sandoz und Bayer enthalten. Im März 2020 entstand ein globaler Kampf um das Medikament. So horteten US-Spitäler das Therapeutikum und Indien, einer der weltgrössten Generikahersteller, verbot die Ausfuhr des Wirkstoffs Chloroquin (siehe NZZ am Sonntag, 28. März 2020). Es werden zudem Anpassungen von Gesetzen geprüft, um die Patentrechte zu umgehen. In Deutschland und Kanada wird auch die Möglichkeit von Zwangslizenzen geprüft. Die Basler Pharmakonzerne Novartis und Roche berichten ebenso von Druckversuchen seitens Regierungen und sprechen gar von Verteilkämpfen. In dieser Stimmung hat Novartis angekündigt, 130 Millionen Dosen gratis zur Verteilung zur Verfügung zu stellen. Die ersten Dosen für ein Testverfahren erhielten Forschungseinrichtungen in den USA. Nicht zufällig hat die Novartis in den USA den grössten Umsatz. Der Verdacht liegt nahe, dass sich Novartis mit ihrem Engagement für die Zeiten nach der Krise zu positionieren versucht. Dann würden nämlich wieder die hohen Margen für individualisierte Gentherapien im Vordergrund stehen (siehe SRF, 18 April 2020). Dieses Engagement erinnert auch an den Kampf gegen Lepra, in welchem Novartis ebenfalls Arzneimittel spendet (siehe Basellandschaftliche Zeitung, 30.1.2012). Da es sich bei Lepra um eine bakterielle Infektion handelt, wird hierbei ein Antibiotika eingesetzt. Gleichzeitig gibt es hier eine weitere Parallele zu COVID-19: Obwohl sich Novartis in diesem Bereich wohltätig zeigt, hat sie gleichzeitig die Forschung dazu gestoppt (siehe MultiWatch-Dokumentation). Das Engagement von Novartis bei bakteriellen Infektionen ist nicht nachhaltig, denn aufgrund von multiresistent Bakterien werden ältere Antibiotika an Wirkung verlieren. Auch die Aufgabe der Impfstoffsparte zeigt, dass sich Novartis in diesem Bereich nicht nachhaltig engagieren will. Novartis-CEO Vasant Narasimhan bestätigt das widersprüchliche Verhalten: “Wenn eine Seuche ausbricht, wollen alle etwas tun, aber wenn sie vorbei ist, interessiert sich kaum mehr jemand dafür. Die Frage ist, wie man die Investitionen in diesen Zeitspannen aufrechterhalten kann“ (siehe Swissinfo, 11.3.2020). Die Impfstoffsparte von Novartis wurde von 2012 bis zum Verkauf durch den jetzigen CEO Vasant Narasimhan geführt – er sollte über die Wichtigkeit dieser Sparte Bescheid wissen (siehe Handelszeitung, 11. März 2020).
  • Ein Kombinationsmedikament Lopinavir/Ritonavir von Abbvie, das bereits bei HIV-Patient*innen eingesetzt wird, kommt auch gegen COVID-19 zur Anwendung. Der Vorteil dieser Anwendung ist, dass diese Kombination bereits auf die Verträglichkeit getestet wurde und so nur die Wirksamkeit in den klinischen Tests bewiesen werden muss. Israel verfügte eine Zwangslizenz auf dieses Medikament – damit wurde zum ersten Mal überhaupt in Israel eine Zwangslizenz für ein Medikament ausgesprochen (siehe Public Eye zu Zwangslizenzen). Abbvie verzichtete daraufhin selbst weltweit auf die Durchsetzung seiner Patentrechte (siehe NZZ am Sonntag, 28. März 2020).
  • Neben den klassischen Impfstoffen und den antiviralen Medikamenten kommen auch sogenannte Anti-Interleukin-6-Antikörper zum Einsatz (siehe NZZ, 2. April 2020). Dies sind Immunmodulatoren, die die Immunantwort des Körpers einschränken, damit diese nicht noch mehr Schaden anrichtet als die Viren selbst. Diese Anwendung wird jedoch erst bei schwerem Verlauf verabreicht, wenn Patient*innen beispielsweise auf der Intensivstation liegen und das Risiko von Organversagen durch eine Sepsis besteht. Hier mischt Basler Pharmakonzern Roche mit dem entzündungshemmenden Arthritis-Medikament Kevzara ganz vorne mit. Mit Unterstützung der US-Behörden werden klinische Tests durchgeführt.

Bei allen antiviralen Medikamenten lassen sich Verteilkämpfe zwischen den Nationalstaaten beobachten, welche einer gerechten Verteilung im Weg stehen (siehe verschiedene Ansätze, um eine gerechte Verteilung zu erreichen, in der Public Eye-Analyse, 30. März 2020). Diese Kämpfe drehen sich häufig um die Beschränkung des Marktes, um sich die Medikamente nationalstaatlich zu sichern. Die Pharmakonzerne geraten wiederum unter Druck und müssen sich mit der Kritik auseinandersetzen, Gewinn aus der Krise zu schöpfen. Deshalb wurde die Initiative der Bill & Melinda Gates Foundation, des Wellcome Trusts und des Mastercard Impact Fund, welcher sich 15 Pharmakonzerne, darunter sechs der zehn umsatzstärksten Konzerne, angeschlossen haben, gegründet. Das Ziel der Initiative ist es, die Wirkstoffbibliotheken der jeweiligen Konzerne zu öffnen und diese zugunsten von COVID-19-Patient*innen zu nutzen. Für bereits kommerzialisierte antivirale und anderen Medikamente soll getestet werden, ob sie beim neuen Coronavirus SARS-CoV-2 eine Wirkung zeigen. Die Hauptverantwortung für die inhaltliche Arbeit dieser Initiative liegt bei Novartis. Die Initiative will auch nach ausgestandener COVID-19-Krise weiterexistieren und eine ähnliche Funktion übernehmen, wie sie die Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI) bei der Impfstoffforschung inne hat (mehr Informationen zur Initiative unter Handelszeitung, 30. März 2020). Die Pharmakonzerne beharren jedoch trotz vermehrter Kooperation auf das „Recht auf geistiges Eigentum“, obwohl die Forschung zu den verschiedenen Medikamenten oftmals massiv vom öffentlichen Sektor unterstützt wird (siehe Public Eye-Analyse, 30. März 2020).

 

Alternativen zum neoliberalen Regime in der medizinischen Forschung

Sowohl in der Forschung an antiviralen Medikamenten als auch in der Impfstoffforschung lassen sich fundamentale Probleme beobachten. Auch die verschiedenen Lichtblicke in der COVID-19-Krise in Form von Forschungskooperationen und Zwangslizenzen können die Dominanz des neoliberalen Regimes und das nationalstaatliche Seilziehen um wirksame Behandlungen gegen COVID-19 in keiner Weise wettmachen. Der offensivere Einsatz von sogenannten Zwangslizenzen ((siehe Public Eye zu Zwangslizenzen) ist sicherlich ein erster Schritt in die richtige Richtung, müsste aber unbedingt durch die Idee der offenen Patente ergänzt werden. Als Alternative zu den privaten Patenten gewährleisten offene Patente die freie Nutzung und die freie Forschung unter der Voraussetzung, dass dabei sämtliche weiteren Erkenntnisse ebenfalls offen verfügbar gemacht werden. Diese Idee ist vergleichbar mit den Open Source Regelungen in der Informatik und müsste besonders in der COVID-19-Krise nicht nur für die öffentliche Forschung gelten, sondern für jegliche Forschung (siehe mehr zur Idee der offenen Patente im Denknetz-Arbeitspapier, 12. Dezember 2016). Dies wäre eine Voraussetzung für einen allumfassenden Austausch von Kenntnissen und Ergebnissen durch Forscher*innen, Institute und Unternehmen und für ein gemeinsames Abwägen ihrer nächsten Forschungs- und Entwicklungsschritte. Dies wäre eine zielführendere Strategie als der derzeit zu beobachtende neoliberale Wettlauf (vergleiche auch „Corona. Kapital. Krise“, 4. April 2020).

Dass die von der Novartis angeführte Initiative auch nach der COVID-19-Krise weiterexistieren wird und die Pharmabranche nach ausgestandener Krise die Impfstoffforschung weiterhin vorantreibt, ist jedoch unwahrscheinlich. Denn nach der Krise fällt die zahlungskräftige Nachfrage weg und die eingangs erwähnten Schwierigkeiten bleiben bestehen. Zudem enthält die Liste der globalen Gesundheitsprobleme weitere Herausforderungen, wie zum Beispiel die Forschung an neuen Antibiotika (siehe MultiWatch-Dokumentation). Es braucht deshalb neue Player auf nationalstaatlicher Ebene, die demokratisch gesteuert und kontrolliert werden können, das öffentliche Interesse also ohne Umschweife verfolgen: Öffentliche F&E-Konsortien und Pharmaproduzenten in öffentlicher Hand. F&E-Konsortien müssen auch jene Krankheiten berücksichtigen, die heute vernachlässigt werden (wie z.B. viele Tropenkrankheiten), und sie müssen die Forschung im nicht-medikamentösen Therapiebereich ausweiten. F&E-Konsortien und öffentliche Pharmabetriebe zusammen bilden zusammen einen neuen Service public (siehe mehr Informationen zu dieser Idee im Denknetz-Arbeitspapier, 12. Dezember 2016). Diese beiden Parteien müssen über eine überstaatliche Behörde, wie z.B. die WHO, koordiniert werden. Dies wird zu einer globalen Forschungs-Gemeinschaft führen, die wir bereits heute dringend in der COVID-19-Krise benötigen würden. Und es wird eine wirkliche Abkehr vom neoliberalen Projekt und dessen Leitprinzip „So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht” bedeuten.