Neue Initiative zur Konzern­verantwortung: Andere Länder machens besser: «Nun ist es halt wieder so weit»

Sollen Schweizer Unternehmen haften, wenn sie im Ausland für Missstände verantwortlich sind? Das wird die Bevölkerung erneut gefragt – auch wegen Menschen wie Alt-Nationalrat Karl Vogler.

Artikel vom Tages-Anzeiger (29.11.2023)

Karl Vogler ist ein Geissenbauer. In seinem Stall in Lungern im Kanton Obwalden betreut er um die 20 Geissen. Er trägt Überhosen zur Arbeit, eine gestrickte Mütze, einen gestrickten Pullover. Sein Land bewirtschaftet er ohne eine einzige Maschine. Das ersetze ihm das Fitnessstudio. Vogler erzählt gern von seinen Geissen.

In einem früheren Leben war Karl Vogler Anwalt, Notar und Nationalrat. Im Bundeshaus in Bern, wo er von 2011 bis 2019 für die CSP in der Mitte-Fraktion und für den Kanton Obwalden im Nationalrat sass, trug er Anzug und Krawatte. Er sass unter anderem in der Rechtskommission, und auch diese Arbeit machte er gern. Er konnte sich in Akten vertiefen, wälzte Dossiers, beschäftigte sich mit Detail A und dann mit Detail B und später auch noch mit Detail C.

Eine seiner intensivsten Beschäftigungen war die Arbeit an einem indirekten Gegenentwurf zur Konzernverantwortungsinitiative. Das war die Initiative mit den orangen Fahnen, die an so vielen Schweizer Balkonen hingen. Viele Fahnen hängen immer noch, das Orange ist in der Zwischenzeit etwas ausgebleicht. 

Nur knapp gescheitert

Drei Jahre ist es her, dass über die Initiative abgestimmt wurde. Das Stimmvolk sagte damals ganz knapp Ja – mit 50,7 Prozent. Doch die Initiative scheiterte am Ständemehr.

Der Abstimmungskampf war heftig. In Erinnerung bleiben vor allem die Auftritte der damaligen Justiz- und heutigen Finanzministerin Karin Keller-Sutter. Sie kämpfte engagiert gegen die Initiative – so engagiert, dass das Parlament sie deswegen vor kurzem rügte: Die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates kam zum Schluss, Keller-Sutter habe die (nicht ganz scharfe) Linie zwischen Information der Bevölkerung und einer zielgerichteten Kampagne gegen die Initiative überschritten.

Die Initiative forderte, dass Schweizer Konzerne für Menschenrechts­verletzungen und Umweltschäden von Tochtergesellschaften und Lieferanten im Ausland geradestehen. Die Konzerne sollten für Missstände haften – zum Beispiel dann, wenn Anwohner einer Kupfermine in Sambia unter Atemnot leiden, Bäuerinnen auf Baumwollfeldern in Indien durch Pestizide vergiftet werden oder in Burkina Faso Kinder auf Kakaoplantagen arbeiten.

Die Wandlung des Karl Vogler

Als Karl Vogler sich im Parlament zum ersten Mal mit der Konzernverantwortungsinitiative beschäftigte, da hatte er durchaus Sympathien für das Anliegen. Aber die Art und Weise, wie die Initianten die Konzerne in die Verantwortung nehmen wollten, behagte ihm nicht. Viel zu extrem! Er begann gemeinsam mit anderen bürgerlichen Mitstreitern – Christa Markwalder von der FDP beispielsweise oder Hans-Ueli Vogt von der SVP –, einen Gegenvorschlag zur Initiative zu erarbeiten.

Er war damit recht erfolgreich: Das Parlament stimmte einem strengen Gegenvorschlag mit Sorgfaltspflichten und Haftungsregeln zu – machte dann aber auf Druck von Bundesrätin Karin Keller-Sutter und vom Ständerat einen Rückzieher. Heute sind die grossen Unternehmen in der Schweiz lediglich dazu verpflichtet, über die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards Bericht zu erstatten. 

Alles andere – so die Argumentation damals – sei viel zu extrem und schädlich für die Schweizer Wirtschaft. Karl Vogler war enttäuscht – und setzte sich stattdessen für ein Ja zur Initiative ein. 

Er war im Abstimmungskampf schon nicht mehr aktiver Nationalrat. Stattdessen nahm er als politisch interessierter Zeitgenosse an Podien teil, erklärte seinen eigenen Gegenvorschlag, erklärte (und bewarb) die Initiative. Er erlebte dann das Nein des Ständemehrs und er sah, was in der EU geschah: Dort wurden ebenfalls neue Richtlinien für die Konzerne verhandelt – und die gehen viel weiter als der damalige abgeschwächte Vorschlag des Schweizer Parlaments.

Und das ist der Grund, warum wir bald wieder über eine nationale Konzernverantwortungs­initiative abstimmen werden. Das ist der Grund, warum die Koalition für Konzernverantwortung sich entschieden hat, eine neue Volksinitiative zu lancieren. Vorstandsmitglied Dominique de Buman (ehemaliger Mitte-Nationalrat) sagt: «Es kann nicht sein, dass die Schweiz bald das einzige Land in Europa ohne Konzernverantwortung ist.» Gerade letzte Woche sei bekannt geworden, dass eine Glencore-Mine in Peru eine ganze Region vergifte. «Solche Beispiele zeigen, dass es endlich griffige Regeln braucht, damit Konzerne für Menschenrechtsverletzungen auch geradestehen müssen», sagt de Buman.

Inhalt wird noch bestimmt

Die Initianten hatten auch in Erwägung gezogen, kantonale Initiativen zu lancieren. Nun haben sie sich für den nationalen Weg entschieden. 

Den exakten Inhalt der Konzernverantwortungsinitiative 2.0 will die Koalition festlegen, sobald die neue EU-Richtlinie zu den Sorgfaltspflichten unter Dach und Fach ist. Das könnte bald der Fall sein: Die Initianten rechnen mit einer Einigung bis Ende Jahr. Im Grundsatz hat das EU-Parlament der Richtlinie bereits im Sommer zugestimmt.

Die Richtlinie sieht eine Pflicht zur Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards bei Geschäften im Ausland vor, und zwar für die gesamte Wertschöpfungskette. Eine unabhängige Aufsicht soll diese Pflicht durchsetzen. Nicht nur die Betroffenen könnten vor europäischen Gerichten gegen Unternehmen vorgehen. Auch NGOs dürften stellvertretend Klagen einreichen.

Vorgesehen ist, dass fehlbare Unternehmen Schadenersatz leisten müssen. Auch eine Klimaklausel ist geplant. Sie würde Unternehmen verpflichten, Pläne vorzulegen, wie sie ihre Wertschöpfungsketten bis 2050 klimaneutral gestalten wollen

«Wir wollten eben gerade nicht, dass wir auf Druck aus dem Ausland reagieren müssen.»

Karl Vogler, Alt-Nationalrat

Stimmt das EU-Parlament der Richtlinie zu, müssen die EU-Länder entsprechende Gesetze erlassen, wobei sie bei der Umsetzung Spielraum haben. In mehreren Ländern sind ähnliche Regeln bereits in Kraft.

«Eigentlich wollten wir mit unserer Arbeit genau das Gegenteil erreichen», sagt Karl Vogler. «Wir wollten eben gerade nicht, dass wir auf Druck aus dem Ausland reagieren müssen. Nun ist es halt wieder so weit.»

Eine neue Richtlinie gibt es in der EU nicht nur bei der Sorgfaltspflicht, sondern auch bei der Berichterstattung der Firmen. Der Bundesrat will die Schweizer Regeln deshalb anpassen: Unternehmen sollen neu schon ab 250 statt ab 500 Mitarbeitenden über Risiken und Massnahmen Bericht erstatten müssen. Wie er auf die andere, strengere EU-Richtlinie reagiert – jene mit den Sorgfaltspflichten –, ist offen: Er sei daran, die Auswirkungen vertieft zu analysieren, schrieb er im September.

Unterstützung aus der Wirtschaft

Wenn der Bundesrat entscheidet, ob die Schweiz ähnliche Regeln wie die EU einführen soll oder nicht, wird er das im Wissen tun, dass eine Volksinitiative angekündigt ist. Die Koalition für Konzernverantwortung baut Druck auf.

Sie kann dabei auf Unterstützung aus der Wirtschaft zählen: Der Dachverband multinationaler Konzerne in Genf GEM hat den Bundesrat bereits aufgefordert, mit der EU gleichzuziehen. Die Wirtschaft brauche Rechtssicherheit, argumentiert er. Das sei auch für das Image und die Attraktivität der Schweiz wichtig.

Auch der Detailhandel wünscht sich, dass die Schweiz eine Regelung beschliesst, die «möglichst jener der EU entspricht». Die Schweizer Detailhändler und ihre Tochterunternehmen erwirtschafteten in der EU einen Umsatz von mehr als 150 Millionen Euro, schreibt die IG Detailhandel. Sie seien deshalb von der EU-Richtlinie direkt betroffen. Ikea unterstützt ebenfalls eine mit dem EU-Recht harmonisierte Gesetzgebung. Das Unternehmen wünscht sich einen risikobasierten Ansatz: Die Massnahmen sollen im Verhältnis zu Schwere und Wahrscheinlichkeit der negativen Auswirkungen stehen. 

«Umwelt, Klima, Biodiversität sind doch ideologiefreie Anliegen!»

Karl Vogler

Swissholdings, der Verband der Industrieunternehmen, ist dagegen skeptisch. Vor allem sieht der Verband keinen Grund zur Eile. Er hält es für wenig realistisch, dass es in der EU bis Ende Jahr eine Einigung gibt. Die EU-Richtlinie würde ohnehin frühestens 2025 in Kraft treten – mit einer zweijährigen Frist zur Überführung ins nationale Recht, schreibt der Verband. 

Das erlaube es der Schweiz, «geordnet und bedacht» die Anpassung ihrer Gesetze zu prüfen. Die international tätigen Firmen würden ohnehin direkt von der EU-Richtlinie erfasst. Aus Sicht von Swissholdings stellen schon die bisherigen Regeln und die geplante Anpassung für die Unternehmen eine grosse Herausforderung dar. Viele Unternehmen hätten grosse Anstrengungen unternommen, um die neuen Berichterstattungspflichten umzusetzen, sagt Geschäftsleitungsmitglied Denise Laufer. 

Die Wirtschaft war bereits gespalten, als es um einen Gegenvorschlag zur ersten Konzernverantwortungsinitiative ging. Trotz der sehr diversen Pro- und Contra-Seiten spielte sich der eigentliche Abstimmungskampf entlang der üblichen ideologischen Gräben ab. Links gegen rechts. Rotgrün gegen bürgerlich. Und genau das störte Karl Vogler, es stört ihn noch heute. Er habe noch nie begriffen, warum auf der bürgerlichen Seite die Umwelt als ein linkes Anliegen angeschaut werde.

«Umwelt, Klima, Biodiversität sind doch ideologiefreie Anliegen!» Es gebe kein bürgerlicheres Anliegen als den Schutz der eigenen Lebensgrundlagen. Er sei überhaupt nicht gegen die Wirtschaft, er sei nicht gegen Wohlstand – aber einfach nicht zulasten von anderen. Auch darum unterstützt der Geissenbauer aus Lungern im Kanton Obwalden die neue Konzernverantwortungsinitiative.

Artikel Tages-Anzeiger (29.11.2023)