Der Schweizer Rohstoffmulti Glencore lässt in Kolumbien einen Fluss umleiten. Die Anwohner:innen wehren sich und gewinnen vor Gericht. Daraufhin verklagt der Konzern das ganze Land. Eine Geschichte über die perfide Logik von Investitionsschutzabkommen.
Artikel der WOZ (3.2.2022)
Mehr Kohle für Glencore, ungewisse Folgen für die Anwohner:innen: Das neue Bachbett des Arroyo Bruno in Nordkolumbien – oft ohne Wasser. Foto: Stephan Suhner
Unberechenbare Risiken! Erpresserische Klagen! Drohende Prozesswelle! Im Abstimmungskampf zur Konzernverantwortungsinitiative (Kovi) im Herbst 2020 schreckten die Gegner:innen nicht vor Panikmache zurück. Trotz der schrillen Warnungen überzeugte die Initiative eine Mehrheit der Bevölkerung, scheiterte aber am Ständemehr. Schweizer Konzerne müssen also auch in Zukunft keine Klagen wegen Umwelt- oder Menschenrechtsverletzungen befürchten. Und können weiterhin das tun, wovor im Abstimmungskampf gewarnt wurde, einfach umgekehrt: auf der Grundlage sogenannter Investitionsschutzabkommen ganze Staaten verklagen.
Die perfide Logik hinter solchen Verträgen zeigt ein aktueller Fall aus Lateinamerika. In der Hauptrolle, einmal mehr: der Zuger Rohstoffmulti Glencore. Im Rahmen eines Konflikts um die Umleitung eines Flusses hat der Konzern den kolumbianischen Staat verklagt.
Bei der Flussgöttin
Schauplatz der Auseinandersetzung ist die Kohlemine El Cerrejón, mit 69 000 Hektaren die grösste in Lateinamerika. Über dreissig Millionen Tonnen Kohle werden hier pro Jahr im Tagebau gefördert, rund vierzig Prozent der gesamten kolumbianischen Produktion. Die meiste Kohle geht in die EU und die USA, in den vergangenen Jahren verstärkt auch nach China. Glencore war seit den nuller Jahren zu rund einem Drittel an El Cerrejón beteiligt, neben dem australisch-britischen Konzern BHP und dem Londoner Unternehmen Anglo American. Letztes Jahr übernahm der Schweizer Multi die Anteile seiner Partner und wurde alleiniger Besitzer der Mine.
Der Tagebau habe einschneidende Folgen für die rund um die Cerrejón-Mine lebenden Gemeinden der Wayúu und der Afrokolumbianer:innen, berichtet deren Anwältin Rosa María Mateus Parra. Mehrere Dörfer der Wayúu, einer der grössten indigenen Gruppen des Landes, sind bei Erweiterungen der Mine schon zwangsumgesiedelt worden. Die Feinstaubemissionen durch den Kohleabbau sowie der hohe Quecksilbergehalt gefährdeten die Gesundheit der Anwohner:innen, sagt Mateus Parra. «Fast alle Wayúu leiden an Atemwegserkrankungen und Hautausschlägen.»
Dennoch trieben Glencore und die früheren Mitbesitzer die Ausbeutung der Mine in den letzten Jahren mit voller Kraft voran. Und sie veranlassten die Umleitung des Flusses Arroyo Bruno, um an neue Kohlevorkommen zu gelangen, die sich darunter befinden.
Die Region La Guajira rund um die Mine ist so etwas wie der Wilde Osten Kolumbiens. Die Halbinsel an der Grenze zu Venezuela ragt ins Karibische Meer. Im Süden, wo sich Bananenplantagen aneinanderreihen und Viehzucht betrieben wird, ist sie fruchtbar. Im Norden hingegen wird sie immer trockener, geht in eine Wüste über. «Die Wasserknappheit wird durch den Kohleabbau massiv verschärft», sagt Stephan Suhner von der Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien (ASK), der regelmässig vor Ort ist. Über ein Dutzend Wasserläufe seien für den Tagebau bereits verlegt oder zerstört worden.
Als auch noch der Arroyo Bruno umgeleitet werden sollte, wehrten sich die Anwohner:innen. Weil sie nicht konsultiert worden waren, zogen sie vor das kolumbianische Verfassungsgericht. 2017 gab es den Kläger:innen recht – und befand, dass der Fluss zurückgeleitet werden müsse. Seinen Beschluss begründete das Gericht mit den ungeklärten Auswirkungen der Umleitung auf das Klima und die Gesundheit der dort lebenden Menschen sowie mit deren von der Verfassung geschützten kulturellen Rechten. Der Fluss habe für diese auch eine spirituelle Dimension, erklärt Anwältin Mateus Parra. «Eine der höchsten Gottheiten der Wayúu lebt in Flüssen. Wenn der Fluss nicht mehr da ist, kann diese Göttin nicht mehr angerufen werden.»
Für die Menschen in La Guajira war das Urteil ein grosser Erfolg. «Zuvor waren sie massiv unter Druck gesetzt worden», erzählt Stephan Suhner. Der Präsident der Mine habe öffentlich Stimmung gegen sie gemacht, mit der Schliessung der Mine und dem Verlust Tausender Arbeitsplätze gedroht. Bei den indigenen Führungspersonen seien daraufhin Todesdrohungen eingegangen. In einem Schreiben hiess es: «Ihr wollt nicht kapieren. Daher werdet ihr sterben» – eine in Kolumbien mit seinen Paramilitärs mehr als ernst zu nehmende Drohung.
Das Gericht hat im Urteil die Firma, die Behörden und die Anwohner:innen aufgefordert, gemeinsam eine Lösung zu finden. Der Abbau der Kohle ist zwar sistiert, der Fluss aber noch immer nicht zurückgeleitet. Stattdessen hat Glencore am 28. Mai 2021 die Klage gegen Kolumbien eingereicht.
Neokoloniales Instrument
Grundlage für die Klage bildet ein Investitionsschutzabkommen zwischen der Schweiz und Kolumbien. Solche zwischenstaatlichen Verträge ermöglichen es ausländischen Konzernen, gegen Staaten zu klagen, wenn sie ihre Profite aufgrund staatlicher Massnahmen gemindert sehen. Dabei sind sie nicht auf nationale Gerichtsbarkeiten angewiesen: Die Urteile fällen private Schiedsgerichte, die teils die Streitparteien selbst, teils das Internationale Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten ernennen. Letzteres gehört zur Weltbank. Für ein Urteil werden jeweils drei Schiedsrichter:innen ernannt.
Eines der Hauptprobleme bei diesen politisch hoch umstrittenen Verfahren sei die mangelnde Transparenz, sagt Rechtsexperte Lukas Schaugg vom Internationalen Institut für nachhaltige Entwicklung (IISD) in Genf. Meist würden weder die Klagen selbst noch vorläufige Entscheide veröffentlicht; auch betroffene Gruppen wie die Indigenen im Fall von Glencore seien nicht repräsentiert. «Weil die in den Abkommen definierten Schutzstandards für die Investoren oft sehr vage sind, haben die Schiedsgerichte einen weiten Interpretationsspielraum.»
Entstanden sind die Investitionsschutzabkommen zu Zeiten der Dekolonisierung, als die Staaten des Nordens ihren direkten Zugriff auf die Rohstoffe im Globalen Süden in Gefahr sahen. So schloss die Schweiz – keine formelle Kolonialmacht, aber mit ihren Handelsfirmen ins koloniale Herrschaftsgefüge involviert – ihre ersten Abkommen im Jahr 1962 mit fünf Staaten, die kurz zuvor von Frankreich unabhängig geworden waren: mit dem Niger, Guinea, Côte d’Ivoire, dem Senegal und Kongo-Brazzaville. Heute unterhält sie 111 solcher Abkommen.
Das Abkommen zwischen der Schweiz und Kolumbien verhandelte im Mai 2006 der damalige CVP-Volkswirtschaftsminister Joseph Deiss mit seinem Amtskollegen Jorge Botero, der zum Kabinett des ultraliberalen Präsidenten Álvaro Uribe gehörte. Die beiden Regierungen lobten in der Einleitung ihr «Bestreben, günstige Bedingungen für Investitionen von Investoren der einen Partei auf dem Hoheitsgebiet der anderen Partei zu schaffen und zu erhalten». Dass damit vor allem die Interessen von Schweizer Konzernen auf kolumbianischem Hoheitsgebiet geschützt werden, zeigt sich spätestens bei der Definition dessen, was als Investition gilt. Unter anderem heisst es dort: «öffentlich-rechtliche Konzessionen, einschliesslich solcher zur Prospektion, Gewinnung und Verwertung von natürlichen Ressourcen».
Das Abkommen mit Kolumbien sei «typisch» für eine Phase, in der die Schutzstandards sehr breit formuliert worden seien, um die Investoren bestmöglich zu schützen, sagt Rechtsexperte Schaugg. «In der Zeit vor der Finanzkrise sind viele solcher Abkommen geschlossen worden, um Staaten davon abzuhalten, als protektionistisch empfundene Massnahmen zu ergreifen.»
Gemäss einer Übersicht der Uno-Handelsorganisation Unctad kam es seit 1987 zu 37 Investitionsschutzklagen von Schweizer Konzernen. Damit befindet sich die Schweiz, was die Anzahl der Klagen betrifft, auf dem zehnten Rang aller Herkunftsstaaten. Wie das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) schreibt, entspricht dies der Schweizer Position bei den weltweiten Auslandsinvestitionen. Die Direktinvestitionen umfassen derzeit 1400 Milliarden Franken. Was den Schutz ihrer Investoren betrifft, ist die Schweiz also eine Grossmacht.
Es sei das dritte Mal, dass Glencore gegen Kolumbien klage, sagt Stephan Suhner von der ASK. «Letztlich blockiert der Konzern mit der Klage in El Cerrejón das Urteil des höchsten Gerichts des Landes. Damit wird der Spielraum eingeschränkt, um Umweltstandards durchzusetzen.» Lukas Schaugg nennt dies einen «regulatory chill»: Bereits die Ankündigung einer Klage entfaltet demnach ihre Wirkung. «Sie kann dazu führen, dass Staaten geplante Gesetze nicht vorantreiben. So können Investoren Druck ausüben, um ihre Interessen durchzusetzen.» Wenn es am Ende zu einem Richtspruch in der Hauptsache komme, würden in siebzig Prozent der Fälle bezüglich fossiler Brennstoffinvestitionen die Unternehmen gewinnen.
Was genau Glencore fordert, ist bis heute nicht öffentlich bekannt. Auf Anfrage in Zug heisst es, man habe Klage gegen Kolumbien eingereicht, «weil keine Lösung gefunden werden konnte und der Wert des Arroyo-Bruno-Projektes gesunken ist». Glencore bleibe aber offen für eine Verhandlungslösung. Die Klage dient also offenkundig als Druckmittel.
Schweiz hinkt hinterher
Dass Investitionsabkommen zunehmend in die Kritik geraten, liegt nicht nur an NGOs. «Wir beobachten eine Tendenz zur Aufkündigung bilateraler Abkommen», konstatiert Lukas Schaugg. Auch die Schweizer Regierung bekam dies zu spüren. So kündigten zuletzt Bolivien, Ecuador und Indien ihre Verträge auf. Auch die kolumbianische Regierung will ihr Abkommen überarbeiten: Die Schutzstandards für die Investoren sollen präzisiert und so letztlich der Spielraum von Klagen eingeschränkt werden. Man habe, schreibt das Seco ganz in der Sprache des Bergbaus, im letzten Jahr mit «exploratorischen Gesprächen» begonnen.
Auch in der EU ist einiges in Bewegung. So urteilte der Europäische Gerichtshof im September, dass die Schiedsklausel im hoch umstrittenen Energiechartavertrag nicht mit Unionsrecht vereinbar sei. Schon früher hatte das Gericht die Schiedsgerichtsbarkeit innerhalb der EU für rechtswidrig befunden. Darauf haben die meisten EU-Staaten ihre innergemeinschaftlichen bilateralen Abkommen gekündigt; zurzeit sind auf verschiedenen Ebenen Reformbestrebungen im Gang. Im Gegensatz dazu verfolge die Schweiz «eine eher konservative Haltung», sagt Schaugg. «Als wichtiger Hub für global tätige Investoren hält sie weiterhin an den klassischen Abkommen der ersten Generation fest.»
Die Klage von Glencore beobachtet man auch bei der Koalition für Konzernverantwortung aufmerksam, die aus der Initiative entstanden ist. Der gesundheitsschädigende Kohleabbau in El Cerrejón war schon während der Abstimmung ein Thema. «Der Fall zeigt die Machtungleichheit zwischen Glencore und der örtlichen Bevölkerung eindrücklich. Es ist doch absurd, dass ein Konzern einen Staat verklagen kann, weil dieser die Menschenrechte und die Umwelt schützen möchte», sagt Seraina Patzen, Sprecherin der Koalition.
Die Koalition verfolgt weiterhin das Ziel, dass stattdessen Konzerne Menschenrechte und Umweltstandards respektieren müssen. Auch hier tut sich auf europäischer Ebene einiges: Diesen Frühling will die EU-Kommission ein entsprechendes Gesetz vorstellen. «Wir werden den Bundesrat dann an sein Versprechen aus der Abstimmungskampagne erinnern, dass er mit der internationalen Entwicklung Schritt halten wolle», so Patzen.
Wann die Klage von Glencore gegen Kolumbien verhandelt wird, steht noch in den Sternen. Bestimmt ist erst einer der Schiedsrichter: der belgische Anwalt Bernard Hanotiau, der auf Wunsch von Glencore berufen wurde. Auf seiner Website rühmt er sich seines erfolgreichen Einsatzes für die Konzerne: 2011 wurde er zum «Schiedsrichter des Jahres» gewählt, 2016 wiederum zum «Anwalt des Jahres für Schiedsklagen». Seine Stimme wird bei einem allfälligen Prozess Gehör finden – ganz im Gegensatz zu jener der Wayúu.
Artikel WOZ (3.2.2022)