Wir brauchen eine Bewegung, die unsere Renten von den Finanzmärkten befreit

GRAIN (22.9.2022) hat ein Plädoyer verfasst, die Altersvorsorgen von den Finanzmärkten abzukoppeln. Der Text enthält Strategien, um den "Pensionskassenkapitalismus" zu bekämpfen. Auch in der Schweiz sind Pensionskassen zentral und haben ein sehr grosses Investitionsvolumen. Immer mehr wird klar, was auch diese Investitionen im Globalen Süden anrichten.

Text von GRAIN (22.9.2022) übersetzt in die deutsche Sprache

Die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen in Brasilien haben hart gekämpft gegen den rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro und dessen fortschreitende Privatisierung der wichtigsten öffentlichen Güter. Im Jahr 2021 erlitten sie jedoch eine Niederlage, als Bolsonaros Regierung den größten öffentlichen Wasserversorger des Landes an einen brasilianischen Private-Equity-Fonds verkaufte.

Bald stellte sich heraus, dass dieser Private-Equity-Fonds zwei der größten kanadischen Pensionskassen gehörte. Die Lohnabhängigen in Kanada waren verständlicherweise wütend, als sie erfuhren, dass ihr angespartes Rentenkapital  zur Privatisierung dieses Wasserversorgers verwendet wurde, der in Brasilien 30 Gemeinden mit 13 Millionen Einwohner:innen versorgt. Mehrere Gewerkschaften forderten die Pensionskassen auf, aus dem Geschäft auszusteigen.

Doch dies war kein Einzelfall. Kanadische Pensionskassen sind – ebenso wie Pensionskassen aus den USA, Europa und Asien – an dem massiven Landraub in Brasiliens artenreicher Cerrado-Region beteiligt. Pensionskassen sind heute in so ziemlich jede Form des räuberischen Finanzkapitalismus gegen den Planeten verwickelt – sei es Gewinnung fossiler Brennstoffe, seien es Investitionen in gewinnorientierte Firmen im Gesundheitssystem, Immobilienspekulation, Aneignung von Land und Wasser oder die Privatisierung wichtiger öffentlicher Dienstleistungen.

Heute verwalten die 22 größten Pensionskassen der Welt gemeinsam ein Vermögen von über 56 Billionen US-Dollar (56’000’000’000’000 USD) und sind damit die grösste Quelle für Finanzkapital. Darüber hinaus sind die Pensionskassen auf hohe oder zumindest anständige Renditen angewiesen, um den Lohnabhängigen im Ruhestand eine Rente sichern zu können. Darum fließt ein immer größerer Teil der Pensionskassengelder in Bereiche wie Private Equity, Immobilien, Land- und Holzwirtschaft und andere so genannte Alternativen zu traditionellen Anlagen wie Aktien und Anleihen. Es geht noch weiter: Pensionskassen lobbyieren sogar aktiv für politische Maßnahmen und Vorschriften zur Privatisierung von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen, um sich damit lukrative Anlagemöglichkeiten zu schaffen.

Pensionskassen konnten an Größe und Macht gewinnen, ohne dass die Lohnabhängigen, mit deren Geldern sie wirtschaften, eine ernsthafte Kontrolle über die Kassen ausüben konnten. Die Lohnabhängigen sind vielmehr abhängig geworden von den finanziellen Erträgen, die Pensionskasseninvestitionen bringen. Sie sind somit angewiesen auf die entsprechenden Bedingungen, die diese Erträge ermöglichen – wie etwa eine weitere Privatisierung. Wie die kanadischen Lohnabhängigen im Fall der brasilianischen Wasserversorgung feststellen mussten, haben sie, aufgrund der Struktur der Pensionsfonds, nur sehr begrenzte Möglichkeiten, Einfluss auf die Investitionsentscheidungen zu nehmen – selbst in Fällen wie diesem, wo die Investitionen eindeutig gegen die Interessen der arbeitenden Bevölkerung gerichtet sind.

Ausserdem profitieren global die wenigsten Arbeitenden vom Pensionskassensystem, denn bloss ein kleiner Prozentsatz der Lohnabhängigen weltweit ist an Pensionskassen beteiligt. Auf nur sieben Länder (Australien, Kanada, Japan, Niederlande, Schweiz, Vereinigtes Königreich, USA) entfallen mehr als 92 % des gesamten von Pensionskassen gehaltenen Kapitals. Und selbst von den Arbeiter:innen in diesen Ländern wird nur ein Bruchteil eine existenzsichernde Rente aus den Pensionskassen erhalten, in die sie einzahlen. In den letzten Jahrzehnten hat es eine bedeutende Verlagerung gegeben weg von Sozialversicherungsplänen und lohnabhängigen Renten (bei denen den Arbeitnehmenden ein bestimmter Prozentsatz ihres Jahresgehalts im Ruhestand garantiert wird) hin zu prekäreren Systemen, bei denen die Risiken aus Finanzanlagen von den einzelnen Arbeiter:innen getragen werden. Diese Verlagerung fiel zusammen mit der Aufhebung gesetzlicher Beschränkungen, die es den Pensionskassen ermöglichen, in risikoreichere Finanzanlagen wie Immobilien und Private Equity zu investieren, sowie mit Bestrebungen, privaten Finanzunternehmen mehr Kontrolle über die Verwaltung öffentlicher Pensionskassen zu geben. Mehrere Länder mit großen Pensionsfonds, wie China, Indien, Japan und Südafrika, bewegen sich im Moment auch in diese Richtung.

Pensionsfonds sind also eindeutig ein Problem das zu gross ist, um es zu ignorieren. Was können wir also dagegen tun?

Gespräche mit Aktivist:innen

Im Mai und Juni 2022 organisierten GRAIN und A Growing Culture zwei Online-Diskussionen, um zu informieren und gemeinsam  über mögliche Maßnahmen nachzudenken. Mehrere hundert Menschen aus der ganzen Welt und mit unterschiedlichem Hintergrund meldeten sich an. Die Treffen boten Raum, um mehr über Pensionskassen zu erfahren und sich über die verschiedenen Initiativen auszutauschen, die Gruppen in unterschiedlichen Sektoren und in verschiedenen Teilen der Welt aufbauen, um gegen Pensionskassen vorzugehen.

Aktivist:innen aus Chile sprachen über die dortige Massenbewegung, die eine Reform des neoliberalen Rentensystems des Landes fordert. Die Bewegung, die ein breites Spektrum der Gesellschaft – von Studierenden bis zu Rentner:innen – umfasst, hat bereits beeindruckende Erfolge erzielt und eine Vision für ein neues, solidarisches und von den Finanzmärkten unabhängiges System formuliert. Aber sie haben eine mächtige Lobby von Unternehmen und Finanzverwaltungsgesellschaften gegen sich, die vom derzeitigen Modell profitieren und den Menschen Angst machen, dass sie ihre individuellen Renten verlören, wenn die Reformen durchgeführt würden.

Die brasilianischen Aktivist:innen betonten, wie wichtig der Aufbau lokaler und internationaler Koalitionen ist, um die Pensionskassen daran zu hindern, den Landraub in der Cerrado-Region weiter voranzutreiben. Die Pensionskassen beteuern, dass sie strenge Umwelt- und Sozialrichtlinien befolgen, aber die Aktivist:innen erklären, dass alle ausländischen Gelder, die in die Region fließen, in die Hände von Agrarunternehmen gelangen, die den Landbesitz konzentrieren, die biologische Vielfalt zerstören und den lokalen Gemeinschaften das Leben schwer machen. Die Kommodifizierung von Ackerland in einen “Vermögenswert” für Investitionen ist an sich schon ein Problem, und deshalb konzentriert sich die internationale Kampagne darauf, Pensionskassen davon abzuhalten, überhaupt in Ackerland zu investieren – anstatt solche Investitionen bloss zu “verbessern”.

Auch die Gewerkschaftsbewegung  in Kanada zeigt, dass es mehr braucht, als nur die Investitionsstrategien der der Pensionskassen zu beeinflussen . So fanden die Angestellten des öffentlichen Sektors kürzlich heraus, dass ihre Pensionskasse Eigentümerin eines gewinnorientierten Unternehmens für Langzeitpflege ist, das im Mittelpunkt eines tragischen Covid-Skandals steht. Sie beschlossen, ihre Energie nicht darauf zu verwenden, ihre Pensionskasse unter Druck zu setzen, um deren Invesitionsbedingungen zu ändern, sondern eine größere Kampagne zu starten, um das Unternehmen zu verstaatlichen und die gesamte Langzeitpflege zu einem öffentlichen Gut zu machen.

Über den Tellerrand blicken

An einem Punkt des Gesprächs wies ein Gewerkschaftsaktivist aus Brasilien darauf hin, dass, wenn die kanadischen Pensionskassen das brasilianische Wasserversorgungsunternehmen nicht aufgekauft hätten, es ein anderes Unternehmen getan hätte – sei es ein Staatsfonds oder eine Investmentbank der Wall Street. In Anbetracht der Tatsache, dass die  sozialen Bewegungen in Brasilien den Kampf gegen die Privatisierung verloren hatten, war es da nicht besser, dass sich das Versorgungsunternehmen zumindest in den Händen einer Pensionskasse befand, wo es sicherlich strategische Möglichkeiten gibt, Druck auszuüben und die schlimmsten Missstände zu beseitigen?

Diese Vorstellung, dass Pensionskassen von innen heraus beeinflusst werden können, prägt den Aktivismus im Bereich der Altersversorgung seit vielen Jahrzehnten. Die Strategie stützt sich auf ähnliche Taktiken wie Aktionär:innenaktivismus, Dialoge mit Unternehmen, Verpflichtungen zu ökologischer und sozialer Unternehmensführung (ESG) und die Entsendung von Arbeitervertreter:innen in die Verwaltungsräte von Pensionskassen. In der Realität haben sich diese Strategien jedoch als kaum wirksam erwiesen. Die Arbeitnehmenden haben so gut wie keinen Einfluss auf Investitionsentscheidungen, selbst wenn ihre Vertreter:innen in den Verwaltungsräten sitzen. Die strukturelle Abhängigkeit der Pensionskassen von hohen Renditen auf den Finanzmärkten macht es sehr schwierig, die Lohnabhängigen zu mobilisieren um ihre Pensionskassenmanager herauszufordern. In vielen Fällen ist das Gegenteil der Fall: Pensionskassenmanager weigern sich, auf die Anliegen der von ihren Investitionen Betroffenen einzugehen – und kommen damit durch, ohne wirklich zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Was wir in diesen beiden Treffen von Aktivist:innen gehört haben, hat uns in unserer Ansicht bestärkt, dass wir uns auf das konzentrieren müssen, was wir als “Außenseiter”-Strategien bezeichnen könnten (siehe Tabelle unten). Pensionsfonds sind ein wichtiger Teil des globalen Finanzsystems, und dieses System verursacht wiederum enorme Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Die systemischen Probleme, die es verursacht, lassen sich nicht durch “Insider”-Strategien lösen; das Gleiche gilt für Pensionskassen.

Letztlich müssen wir für eine Altersvorsorge kämpfen, die nicht durch die Finanzmärkte gesichert ist. Das bedeutet, große, vielfältige Bewegungen aufzubauen, um einerseits die Pensionskassensysteme zu reformieren, wie es soziale Bewegungen in Chile schon tun, und andererseits um die Privatisierung und Finanzialisierung öffentlicher, solidarischer Rentensysteme zu verhindern, wie es Gewerkschaften in Indien tun. Gleichzeitig müssen wir Bewegungen aufbauen, um öffentliche Güter (Wasser, Lebensmittel, Verkehr, Gesundheitsdienste, Bildung, Wohnen usw.) zu schützen und sie den räuberischen Händen des Finanzkapitals zu entreissen.

Es ist eine große Herausforderung, sich überhaupt vorzustellen, dass wir uns von den dominierenden Pensionskassensystemen abwenden können. Aber angesichts ihres wachsenden Einflusses auf unsere Lebensmittel, unsere Gesundheit, unser Wasser und andere Sektoren und der schlechten Resultate für so viele Arbeitnehmenden im Ruhestand ist es dringend notwendig, mehr zu erfahren und zu sehen, was wir tun können.

Zwei Strategien um ‘Pensionskassenkapitalismus’ zu bekämpfen

1.Insider

  • ESG
  • Aktionär:innenaktivismus
  • Stimmrechtsvertretung/‘Engagement’
  • Verbesserung der Diversity in Unternehmens- oder Pensionskassenvorständen
  • Streben nach mehr oder besserer “Joint Governance” für Gewerkschaften
  • Anrufe von Aktivist:innen bei Vertreter:innen der Gewerkschaften

2. Outsider

  • Soziale Massenmobilisierungen (Gewerkschaften, soziale Bewegungen, internationale Netzwerke)
    Erhöhung der Kosten und Risiken von schädlichen Projekten
    Politische/staatliche Interventionen gegen Projekte (z.B. Revera, Orpea)
    Gesetzliche Beschränkungen für Investitionen von Pensionskassen (z.B. Agrarland in Kanada)
    Öffentliche Politik zur Eindämmung der privaten Finanzierung, Rückkehr zu PAYGO und nicht kapitalisierten Rentensystemen

Übergreifende Strategie

  • Desinvestition/Reinvestition
  • Forderung nach mehr Offenlegung von Investitionen gegenüber Mitgliedern und der Öffentlichkeit

Text von GRAIN (22.9.2022) übersetzt in die deutsche Sprache

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