Vorgängerfirmen von Novartis testeten nicht zugelassene Medikamente in der Klink Münsterlingen, Thurgau

In insgesamt zehn Schweizer Psychiatrie-Kliniken wurden zwischen 1940 und 1980 nicht zugelassene Medikamente an unwissende Patient:innen verabreicht. Der Fall der psychiatrischen Klinik Münsterlingen (im Kanton Thurgau) ist sehr gut dokumentiert. Zentrale Akteurinnen seitens der Pharmaindustrie waren die Firmen Ciba und Geigy – Vorgängerfirmen des Basler Pharmakonzerns Novartis.

Erst im Jahr 2018 wurde dank Testberichten bekannt, dass die illegalen Medikamententests systematisch und im grossen Stil durchgeführt worden waren. Es wurde öffentlich, dass neben den schon bekannten Orten in Basel, Zürich, Münsterlingen (TG), Herisau (AR) und St. Urban (LU) auch in den psychiatrischen Universitätskliniken Bern, Genf und Lausanne sowie in den psychiatrischen Kliniken Münsingen (BE) und Wil (SG) Präparate an depressiven und schizophrenen Patient:innen getestet wurden.

Eine systematische Ebene erreichten die Medikamententests im Jahre 1966, als erstmals das Testpräparat «MF 10» an 130 Patient:innen in allen fünf psychiatrischen Universitätskliniken der Schweiz getestet wurde (siehe SRF, 18.01.2018). Die Liste der Nebenwirkungen des Testpräparats «MF 10» umfasst 34 Symptome, von Kollaps bis hin zu Halluzinationen. Bei anderen Tests gab es Fälle von irreversiblen Nebenwirkungen und es verstarben während den klinischen Tests Patient:innen – so auch in der Klinik Münsterlingen. Die Todesursache ist jeweils nicht genau zu bestimmen.

Medikamententests in Münsterlingen

In der psychiatrischen Klinik Münsterlingen wurden Medikamente an über 2’700 Personen getestet, teilweise handelte es sich um  Kinder und Jugendliche(siehe SRF, 24.09.2019). Sie alle erhielten Medikamente, die noch nicht zugelassen waren und deren Wirkung völlig unbekannt war. Teilweise hatten die Tests fatale psychische und physische Folgen: 36 Personen starben während oder kurz nach der Verabreichung der Medikamente. Häufig wussten die Patient:innen über die Tests nicht Bescheid. Mitverantwortlich für die Tests war Roland Kuhn. Er war von 1939 bis 1980 als Arzt und Direktor in der Klinik Münsterlingen tätig. In dieser Zeit wurden mindestens drei Millionen Einzeldosen geliefert und es kamen 67 Substanzen zum Einsatz. Diese wurden vorwiegend von den beiden Novartis-Vorgängerfirmen,  Ciba und Geigy, produziert.

Medikamententests als Schlüsselfaktoren für den Aufstieg der pharmazeutischen Sparte von Geigy

Die in Münsterlingen nachweislich getesteten 67 Prüfsubstanzen stammten von den Firmen Geigy, Ciba, Ciba-Geigy (nach dem Zusammenschluss), Sandoz, Hoffmann-La Roche, Wander und in einem Fall von der US-Firma Wyeth (siehe NZZ, 23.09.2019). Besonders zentral waren die Medikamententests für die Basler Pharmafirmen Ciba und Geigy. Der Hauptverantwortliche für klinische Prüfung bei Ciba, Paul Schmidlin, führte einen intensiven Austausch mit Roland Kuhn. Auch für Geigy erwies sich die Kooperation als zentral für den Aufstieg der pharmazeutischen Sparte. Wie eingangs erwähnt, wurden nicht nur in Münsterlingen solche Substanzen getestet – es gibt Hinweise dafür bei allen fünf Schweizer Universitätskliniken in Zürich (Burghölzli), Bern, Basel, Lausanne und Genf sowie bei 15 weitere Kliniken. Allein von Geigy waren von 1955 bis 1962 in verschiedenen Kliniken 117 Substanzen zwecks klinischer Tests in Umlauf, davon 27 Psychopharmaka.

Novartis entschädigt Opfer von Medikamententests

Eine vom Kanton Thurgau in Auftrag gegebene wissenschaftliche Aufarbeitung legte 2021 die enorme Dimension der damaligen Tests mit Psychopharmaka in der Klinik Münsterlingen offen. Profitiert von den Versuchen an Menschen, habe die Basler Pharmaindustrie. Novartis gilt als Nachfolgefirma der damals involvierten Unternehmen. Der Kanton Thurgau nimmt die Pharmaindustrie in die Pflicht, da sie aus heutiger Sicht eine gewisse moralische Mitverantwortung trage, und erwartet eine massgebliche Beteiligung an den Kosten. Nach Verhandlungen gab der Pharmakonzern bekannt, dass er sich mit 4 Millionen Franken an der Entschädigung der Opfer der Medikamententests in der psychiatrischen Klinik Münsterlingen beteiligen wird (mehr dazu unter SRF, 02.02.2024).

Literatur:

Marietta Meier, Mario König, Magaly Tornay (2019): Testfall Münsterlingen. Klinische Versuche in der Psychiatrie, 1940–1980. Zürich: Chronos Verlag.



Letzte Neuigkeiten

Schweiz, 02.02.2024

Novartis zahlt Millionen an Opfer von Medikamententests

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