Ein privater Sicherheitsdienst schützt Syngentas Testfelder und ermordet einen Gewerkschaftsführer.
Bis 2008 besass Syngenta ein 122 Hektar grosses Gelände in der Gemeinde Santa Tereza do Oeste, nur vier Kilometer entfernt vom Iguaçú-Nationalpark, einer Schutzzone mit einzigartiger Biodiversität, die von der UNO als Welterbe der Menschheit deklariert wurde. Gemäss dem damals gültigen brasilianischen Umweltgesetz durften innerhalb einer Distanz von 10 Kilometern vom Nationalpark keine fremden Pflanzen angepflanzt werden. Im Jahr 2005 entdeckten Kleinbäuerinnen und -bauern der Umgebung, dass auf dem Versuchsgelände der Syngenta heimlich Versuche mit genveränderter Soja durchgeführt wurden. Die internationale Kleinbauernbewegung La Via Campesina, zu der die brasilianische Landlosenbewegung MST gehört, prangerte dies an der Biodiversitätskonferenz der UNO im Jahr 2006 in Curitiba öffentlich an. Schliesslich belegte die brasilianische Umweltbehörde IBAMA Syngenta mit einer Busse von CHF 500’000. Diese Busse hat Syngenta bis heute nicht bezahlt. Die Situation wurde noch kritischer, als sich herausstellte, dass Syngenta auch genveränderten Mais auf dem Versuchsgelände anpflanzte. Die Bewegung der Landlosen, die direkt daneben eine ihrer Siedlungen unterhält, musste befürchten, dass ihr traditioneller Mais durch den Gentechmais der Syngenta kontaminiert werden könnte, und beschloss daher, ihren Protest durch eine Besetzung des Syngenta-Geländes auszuweiten.
Im März 2006 fand diese erste Besetzung statt. Die Landlosen konnten sich während fast eines Jahres auf dem Gelände halten. Dann bekamen sie einen Räumungsbefehl, den Syngenta durch richterlichen Beschluss erwirkt hatte, und mussten das Gelände verlassen. Sie bauten ihr Zeltlager unmittelbar neben dem Gelände der Syngenta entlang einer wichtigen Strasse wieder auf.
Das Gouverneursdekret und weitere Besetzungen
Der damalige Gouverneur des Staates Paraná, Roberto Requião, empörte sich über diese Angelegenheit und trat gegen Syngenta an. Durch Enteignung per Dekret versuchte er den Konzern zum Wegzug zu zwingen. Daraufhin besetzten die Landlosen das zu enteignende Gelände zum zweiten Mal. Syngenta gelang es jedoch, das Dekret des Gouverneurs gerichtlich anzufechten und als ungültig erklären zu lassen, sodass die Landlosen das Gelände erneut verlassen mussten. Sie zogen sich in ihre Siedlung zurück.
Nach einigen Monaten konnten sie beobachten, dass Syngenta den Boden für eine neue Aussaat von Gentechpflanzen vorbereitete. Daraufhin besetzten sie mit ungefähr 450 Leuten in der Morgenfrühe des 21. Oktober 2007 das Gelände der Syngenta zum dritten Mal. Am Eingang beim Torwächterhäuschen stiessen sie auf sechs bewaffnete Angestellte der von Syngenta verpflichteten Organisation N.F. Segurança. Im Häuschen befanden sich weitere Waffen. Die Landlosen schickten die Wachmänner von N.F. Segurança weg, konnten aber beobachten, wie diese in einiger Distanz mit Polizisten diskutierten.
Im Verlauf des Morgens erschien ein Wachmann von N.F. Segurança in der Nähe des Torwächterhäuschens, gestikulierte mit erhobener Waffe und schrie, er und seine Kollegen würden zurückkommen, um die Landlosen zu töten. Die Landlosen begaben sich in ihr im Aufbau begriffenes Lager und widmeten sich dem Organisieren von Kaffee und dem Vorbereiten des Mittagessens.
Ungefähr um 12.20 Uhr fuhr ein Wagen mit zwei Insassen in der Eingangszone vor. Die Männer riefen den Landlosen erneut Morddrohungen zu. Einige Anführer der Landlosenbewegung sich im Torwächterhäuschen und beobachteten von dort aus die Situation.
Der Überfall
Plötzlich fuhr ein weiterer Wagen vor. Bewaffnete sprangen heraus und schossen sofort auf die Männer, die sich im Torwächterhäuschen befanden. Zum Glück konnte einer von ihnen noch durch die Türe entkommen. Er rannte in die Siedlung Olga Benário, um den Anwalt der Bewegung über den Angriff zu informieren.
Nach dem Wagen mit den ersten Pistoleros näherte sich ein Bus, aus dem mehr als vierzig bis an die Zähne bewaffnete, schwarz gekleidete Männer sprangen. Die Männer der N.F. Segurança umzingelten die Landlosen und begannen schreiend, wild und chaotisch aus allen Richtungen zu schiessen.
Die Schiesserei dauerte etwa zehn Minuten. Dabei wurde Valmir Mota de Oliveira aus nächster Nähe mit neun Schüssen exekutiert. Valmir war 34 Jahre alt, verheiratet und Vater von zwei Buben. Die Wachmänner versuchten auch, eine zweite Person, eine Frau, zu töten. Am Boden kniend richtete sie den Kopf auf, um ihren Mördern in die Augen zu schauen, und wurde dabei von einem Schuss in ihr rechtes Auge getroffen. Eine andere Kugel blieb in ihrer Lunge stecken. Im Kugelhagel wurden weitere Landlose verletzt.
Auf der Seite von F.N. Segurança wurde ebenfalls ein Mann getötet. Aufgrund einer polizeilichen Untersuchung wird angenommen, dass er von den eigenen Kollegen, die von hinten in verschiedenen Gruppen nachrückten, getroffen wurde.
N.F. Segurança
Bei dieser Organisation handelte es sich nicht etwa um eine normale, legale Sicherheitsfirma, sondern vielmehr um eine private Miliz, um Paramilitärs. Wegen illegalem Einsatz von Waffen hatte N.F. Segurança bereits verschiedentlich grosse Probleme mit der Justiz. Als Deckung für ihre Aktivitäten gab sie sich den Anschein einer Sicherheitsfirma. Die Organisation arbeitete mit der Sociedade Rural do Oeste (SRO) und dem Movimento dos Produtores Rurais (MPR) zusammen. Dies sind äusserst aggressive und gewaltbereite Zusammenschlüsse von Grossgrundbesitzern und Grossbauern, die die Landlosen mit Gewalt von ihren Farmen fernhalten oder vertreiben.
Der Auftrag, den Syngenta mit der Miliz vereinbart hatte, bestand darin, bei einer erneuten Besetzung innerhalb einer Stunde in Aktion zu treten und die Besetzer zu vertreiben, koste es, was es wolle.
Nach der Ermordung von Keno
Das Verbrechen löste weltweit eine Welle der Empörung und des Protestes aus. Der damalige Botschafter der Schweiz in Brasilien entschuldigte sich bei der Witwe von Keno. Neben Amnesty International protestierten über 200 Organisationen öffentlich gegen das Handeln von Syngenta – der Protest reichte am 17. April 2008 bis vor den Hauptsitz von Syngenta in Basel. Protest und Aufruhr waren so gross, dass der Konzern den Ort verlassen musste.
Die Verantwortlichen von Syngenta vereinbarten ein Treffen mit dem Gouverneur und verhandelten mit ihm über eine Übergabe des Versuchsgeländes an den Staat. Der Gouverneur forderte von Syngenta den Rückzug aller bisherigen gegen den Staat gerichteten Klagen. Syngenta willigte ein und übergab schliesslich das Gelände dem Staat als Schenkung.
Der Gouverneur ordnete die Umwandlung des Gentechgeländes in ein Zentrum für agroökologischen Landbau und bäuerliches Saatgut unter der Leitung des staatlichen Institutes IAPAR an. Saatgut wurde in der Folge gratis an Kleinbauern abgegeben. An der Gedenkfeier im Jahre 2009 habe auch ich einen Sack mit bäuerlichem Saatgut geschenkt bekommen.
Die Prozesse
Zurzeit sind zwei Prozesse im Gange: ein ziviler Prozess und der eigentliche Gerichtsprozess. Der zivile Prozess wird von der Menschrechtsorganisation Terra de Direitos geführt. Er hat zum Ziel, Syngenta als Auftraggeberin der kriminellen Organisation N.F. Segurança zu identifizieren und zu einer entsprechenden Entschädigung für die Opfer, die Witwe, ihre Söhne sowie die durch Schüsse ins Auge und in die Lunge arbeitsunfähig gewordene Frau zu verurteilen. Was den zweiten Prozess betrifft, hat die Staatsanwaltschaft neun Angestellte von N.F. Segurança, deren Chef, einen Repräsentanten der lokalen Grossgrundbesitzer sowie acht Mitglieder der Landlosenbewegung angeklagt.
Sowohl bei den Staatsanwälten als auch bei den Geschworenen und den Richtern handelt es sich um Leute aus der Region, die fast immer mit den lokalen Grossgrundbesitzern, Politikern und Konzernen verbunden und für Korruption empfänglich sind. Da erstaunt es nicht, dass Syngenta als Auftraggeberin der Miliz im Prozess nicht genannt und angeklagt wird und die Landlosen von Opfern zu Tätern gemacht werden. Zudem sind die Staatsanwälte und Richter von der allgemeinen Tendenz zur Kriminalisierung von sozialen Bewegungen beeinflusst und haben wenig Verständnis für die Landbesetzungen. Die Justiz steht fast immer auf der Seite der mächtigen Landbesitzer und ihrer bewaffneten Milizen.
Das Urteil
Vor diesem Hintergrund bedeutet es eine positive Überraschung, dass der Richter Pedro Ivo Moreiro vom Ersten Zivilgericht von Cascavel Syngenta im November 2015 als schuldig bezeichnet und verurteilt hat. Syngenta soll der Familie von Keno sowie der nach dem Schuss ins Auge behinderten Frau eine Kompensation für den zugefügten moralischen und materiellen Schaden zahlen. In seinem Urteilsspruch sagte der Richter: „Das, was passiert ist, eine Konfrontation zu nennen, heisst seine Augen vor der Realität zu verschliessen, denn (…) es gibt keinen Zweifel, dass es in Wahrheit ein Massaker war, welches als eine Wiederinbesitznahme von Eigentum getarnt wurde.“
Syngenta widerspricht der Version des Richters und besteht darauf, dass es sich um eine Konfrontation zwischen Milizen (also N.F. Segurança) und Mitgliedern von La Via Campesina gehandelt habe. Es sei also nie um den Schutz ihres Eigentums gegangen, sondern N.F. Segurança habe ideologische Gründe gehabt. Mit dieser Argumentation von Syngenta ist vom Auftrag und der ursächlichen Verantwortung keine Rede mehr.
Aber der Richter entgegnete, eine „schlechte Wahl beim Auslagern von Sicherheitsdienstleistungen wie auch die indirekte Finanzierung von rechtswidrigen Aktivitäten seien Faktoren, die eine zivilrechtliche Haftung verursachten“. Obwohl zu erwarten ist, dass Syngenta Berufung gegen den Urteilsspruch einlegen wird, ist dieser von grosser Bedeutung für die Opfer wie auch für die sie vertretenden Juristen und Sozialbewegungen.
Der Kampf um die Landreform
Nach der brasilianischen Verfassung kann Land, das nicht bebaut wird und das seine soziale Funktion nicht erfüllt, enteignet und für die Agrarreform bereitgestellt werden. Dieser Gesetzesartikel ist legale Grund- und politische Ausgangslage für die Bewegung der Landlosen, wenn sie um ein Stück Land für eine neue Siedlung kämpft. In diesem Kampf sind unzählige Genossinnen und Genossen gefallen. Die zur katholischen Kirche gehörende Landpastoralkomission (Comissão Pastoral da Terra, CPT) hat in ihrer Statistik der Morde und Landkonflikte festgestellt, dass in den letzten 30 Jahren 1723 Personen in 1307 Landkonflikten ermordet wurden. Es handelte sich dabei um engagierte Priester und Ordensschwestern, Umweltaktivistinnen und Umweltaktivisten, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter und in einigen Fällen auch um Politiker. Die Ermordung von Valmir Mota de Oliveira ist demzufolge kein Einzelfall.
Syngenta schuldig gesprochen
Terra de Direitos (29.11.2018) und Brasil de Fato (30.11.2018) berichten, dass der Gerichtshof von Paraná am 29.11.2018 bestätigt hat, dass das Schweizer transnationale Unternehmen Syngenta S.A. für die Ermordung des landlosen Bauern Valmir Mota de Oliveira, bekannt als Keno, und den versuchten Mord an der Bäuerin Isabel Nascimento de Souza verantwortlich ist. Auf Anfrage der Wochenzeitung bedauert Syngenta den «Vorfall» von 2007, der sich «zwischen gewalttätigen Gruppen» ereignet habe. Syngenta habe nichts mit der «tragischen Konfrontation» zu tun und werde das Urteil weiterziehen (siehe Artikel vom 13.12.2018).