Die Nachbarn einer Tochterfirma des Schweizer Konzerns klagen seit Jahren über Krankheiten. Nun hat ein Gericht wegen erhöhter Schadstoffwerte durchgegriffen. Die Sika spricht von einer Kampagne.
Artikel vom Tages-Anzeiger (30.11.2023)
«Für Sika hat die Einhaltung von Umwelt- und Menschenrechtsstandards seit je eine hohe Priorität.»
«Verantwortung zu übernehmen, ist für uns eine Selbstverständlichkeit.»
«Wir haben sehr hohe Standards.»
Paul Hälg wählte grosse Worte, als es um die Konzernverantwortungsinitiative ging. Soziale Verantwortung sei heutzutage mindestens so zentral wie Gewinn, sagte der Verwaltungsratspräsident der Sika-Gruppe im Interview mit CH Media. «Eine erfolgreiche Firma kann es sich nicht mehr leisten, gegen Umweltstandards zu verstossen.»
Drei Jahre später erscheinen diese Aussagen in einem neuen Licht. Laut Untersuchungen von argentinischen Behörden trafen die sehr hohen Standards zumindest auf eine Tochterfirma des Schweizer Chemiekonzerns nicht zu.
Anwohner der Fabrik Klaukol in Virrey del Pino, einem Vorort von Buenos Aires, klagen schon seit Jahren über hohe Schadstoffemissionen und über eine Häufung von Krankheiten in ihrem Viertel. Nun haben sie einen Sieg errungen: Ein argentinisches Gericht hat den Betrieb im Oktober gestützt auf verschiedene Untersuchungen vorübergehend eingestellt. «Eine Vorsichtsmassnahme für die Gesundheit der Bewohner», heisst es übersetzt aus dem Urteil.
Die Sika wehrt sich gegen die Vorwürfe.
Prüfer entdeckten ein «grosses Loch»
Das Firmengelände ausserhalb der Hauptstadt ist umgeben von Mauern und Stacheldraht. Letztes Jahr erhielten Prüfer des argentinischen Rats für wissenschaftliche und technische Untersuchungen (Conicet) Zutritt. Sie kontrollierten den Umwelteinfluss des Feinstaubs, den das Unternehmen vor Ort verursacht. Ihre Fotos zeigen rostige Leitungen und behelfsmässig geflickte Rohre, in der Leitung aus einem Ofen klaffte laut Rapport «ein grosses Loch». Vor allem fanden die Prüfer grosse Mengen an Staub, der sich «in der gesamten Anlage, sowohl innerhalb als auch ausserhalb, ablagert».
Das Problem: Den Untersuchungen zufolge emittiert die Fabrik, die seit 2019 im Besitz der Sika ist, auch kleinste Partikel in die Umwelt. Diese können je nach Grösse und Zusammensetzung die Gesundheit gefährden, indem sie über die Luft in die Lunge und so in den Körper gelangen. Das Schweizer Bundesamt für Umwelt führt Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen als mögliche Folgen von Feinstaub auf, aber auch Lungenkrebs und vorzeitige Todesfälle.
Entsprechend gibt es Richtwerte, von der Weltgesundheitsorganisation, aber auch von den argentinischen Behörden. Doch diese wurden gemäss den Prüfern in der Sika-Fabrik immer wieder überschritten. Auch an Standorten rund um die Fabrik zeigten Messungen eine erhöhte Belastung – zumindest einen Teil davon trug laut Untersuchung direkt die Fabrik bei.
Der Bericht lag bereits im September 2022 vor. Die Prüfer formulierten damals verschiedene Empfehlungen, von besseren Sensoren bis zu baulichen Massnahmen. Nun hielt das zuständige Gericht im Oktober 2023 fest, das Unternehmen sei zwar bemüht, die Ausbreitung von Feinstaub zu verhindern. Allerdings zeige sich, «dass im Betrieb die Partikel immer noch an den Wänden, Dächern und Dachrinnen verstreut sind».
Das Gericht ordnete deshalb an, die Firmentätigkeit zu suspendieren. Zumindest so lange, bis alle nötigen Massnahmen getroffen worden sind, um die Feinstaubexposition der Nachbarn zu verhindern. Oder bis die Behörden «den kausalen Zusammenhang zwischen den festgestellten Pathologien und der industriellen Tätigkeit ausschliessen». Denn ein medizinisches Gutachten bestätigte das, was Bewohner des Viertels schon seit Jahren behaupten: Viele Menschen in den angrenzenden Quartieren sind krank.
48 Verdachtsfälle gefunden
Das Gutachten listet Anwohner um Anwohner auf. Patient 1 hat immer wieder gereizte Augen und Atemwege, Patient 2 trockenen Husten und entzündete Schleimhäute. Patient 5 litt als Kind an sogenannten Bronchospasmen, bei denen die Atemmuskulatur verkrampft. Die Patienten 8, 18, 29, 31 und 38 erkrankten allesamt an Asthma.
Insgesamt enthält das Dossier 48 «Verdachtsfälle», bei denen ein Zusammenhang mit der Feinstaubbelastung vermutet wird. Die allermeisten von ihnen leben in den Häusern direkt um die Fabrik oder sie arbeiteten einst selbst dort. In der Regel stellte die untersuchende Ärztin bei ihnen Erkrankungen der Atemwege, Haut- und Augenprobleme fest.
Einen direkten Zusammenhang mit der Tätigkeit der Sika-Tochter belegt das medizinische Gutachten nicht. Im Entscheid des Gerichts ist nur die Rede davon, dass gewisse Erkrankungen «möglicherweise» mit dem Feinstaub in der Umwelt zusammenhängen könnten, der von der Sika-Tochter kommt. Dennoch hat das Gericht im Oktober einen vorübergehenden Betriebsstopp verordnet.
Im Entscheid wird auch ein Urteil des höchsten argentinischen Gerichts zu einem anderen Fall zitiert. Laut diesem habe niemand ein Recht, mit einer Industrie «die öffentliche Gesundheit zu gefährden und Tod und Leid in der Nachbarschaft zu verbreiten».
Es sind klare Worte. Sie passen so gar nicht zu den Versprechen, die der Sika-Präsident einst machte. Im Interview mit CH Media gab Paul Johann Hälg auch an, man befolge Prinzipien zum Umweltschutz und zur sozialen Verantwortung in allen über 100 Sika-Gesellschaften. «Diese werden auch regelmässig geprüft.»
Warum also fielen die Probleme im Vorort von Buenos Aires nicht auf? Und was sagt man zu den Untersuchungen vor Ort und dem Entscheid, den Betrieb einzustellen?
«Wir haben seit der Übernahme 2019 diverse betriebliche Verbesserungen vorgenommen.»
Kommunikationschef Dominik Slappnig spricht von einer Kampagne gewisser Anwohner, «der aus Sicht von Sika die Basis fehlt». Der Staub in der Firma entstehe durch die Trocknung von nassem Sand, den man für die Produktion von Mörtel verwende. Das sei harmlos.
Die Sika nehme die Einhaltung der gesetzlichen und behördlichen Vorgaben in ihren über 400 Fabriken sehr ernst, sagt Slappnig. «Wir sind in ständigem Kontakt mit den Anwohnerinnen und Anwohnern in Virrey del Pino und haben seit der Übernahme des Firmenstandortes 2019 diverse betriebliche Verbesserungen vorgenommen.» Man werde nun Zeit investieren, um in Zusammenarbeit mit den Nachbarn und den Behörden eine Lösung zu finden.
Anwälte der Sika wehrten sich zuletzt gegen den Betriebsstopp, der «erheblichen und unhaltbaren Schaden» anrichtet, wie sie schrieben. Die Lokalbehörden autorisierten nun vor einigen Tagen eine provisorische Betriebstätigkeit für 90 Tage – «zum einzigen Zweck», bei der Kontrolle, Messung und Modellierung von Emissionen voranzukommen.
Artikel Tages-Anzeiger (30.11.2023)