Der Bergbaukonzern Vale hat die Risiken des gebrochenen Staudamms im brasilianischen Brumadinho vertuscht. Drohen noch weitere Katastrophen?
Artikel vom NZZ am Sonntag (27.4.2019)
Bergungsteam erholt sich nach einem Dammbruch von einem Einsatz im brasilianischen Brumadinho (Bild: Reuters / Alves Washington)
Die brasilianische Vale, der weltgrösste Förderer von Eisenerz mit Europa-Sitz inSaint-Prex (VD), ist für Brasiliens grössten Industrieunfall verantwortlich: Am 25.Januar riss der Staudamm des Rückhaltebeckens einer Mine. Millionen von Kubikmetern Abraumschlamm ergossen sich über die Täler und Siedlungen. 229 Leichen wurden bis jetzt geborgen, unter ihnen Dutzende Vale-Mitarbeiter aus einer Cafeteria direkt unterhalb des Damms. 48 Menschen werden vermisst. Die Brüchigkeit des Dammes soll laut internen Untersuchungen längst bekannt gewesen sein.
In einem internen Papier, das die Staatsanwaltschaft Ende Januar beschlagnahmt hat, stuften Vale-Ingenieure neun weitere Dämme der gleichen Bauart (Upstream-Tailing-Dämme) als sehr brüchig ein. Offiziell aber beharrte derinzwischen zurückgetretene Vale-Konzernchef Fabio Schvartsman darauf, dass die Dämme sicher seien. Die Anlage in Brumadinho (Minas Gerais) war drei Monate zuvor vom deutschen TÜV Süd geprüft und nicht beanstandet worden (Artikel unten).
Vale betonte gegenüber der «NZZ am Sonntag». dass in dem internen Papier «strengere Standards als die derzeit geltenden nationalen und internationalen Rechtsvorschriften» zugrundegelegt wurden. Dies sollte «vorsorgliche Massnahmen» ermöglichen. Der ehemalige Staatskonzern hat schon länger einen angeschlagenen Ruf: Kaum vier Jahre zuvor war in Mariana, nur 100 Kilometer von Brumadinho entfernt, ein Damm gleicher Bauweise gebrochen. Die Schlammlawine tötete 19 Menschen und vergiftete den Fluss Doce auf einer Länge von 650 Kilometern bis in den Atlantik. Vale betrieb den Damm in Mariana mit dem britisch-australischen BHP-Konzern.
Die Bauweise des Unglück-Damms in Brumadinho ist denkbar einfach: Er wird durch sukzessives Aufschütten der Struktur an die benötigte Höhe angepasst und nach innen über den zu sichernden Schlamm gebaut. Von 2010 bis 2017 gab es weltweit 13 Brüche von Dämmen dieser Bauweise, das sind zehnmal so viele wie bei anderen Bauarten.
In Chile sind Dämme dieser Bauweise verboten, in Europa gibt es kaum noch welche. Aber sie sind die billigste – und riskanteste – Methode, Abraumbecken zu bauen. Und mit dem Bergbau werden in Brasilien gute Geschäfte gemacht: Aus dem Bundesstaat Minas Gerais – der Name bedeutet «allgemeine Mine» – stammen 40% des landesweiten Bergbau-Umsatzes und 4% des Bruttoinlandsprodukts. Vale erwirtschaftete 2017 einen Umsatz von 34Mrd.$ und einen Gewinn von 4,6Mrd.$ – mehr als die Hälfte davon mit Eisenerzen, wie siein Brumadinho gefördert werden.
In Brasilien, wo ganze Landstriche vom Bergbau gezeichnet sind und Städte davon abhängen, haben die zwei Katastrophen die Angst geschürt, wann und wo das nächste Unglück passieren könnte. Insgesamt gibt es im Land 9415 Minen und über 24000 Dämme. Weniger als ein Fünftel davon fallen unter die Aufsicht des Staudamm-Schutzgesetzes. Davon hätten 570 keinen verantwortlichen Betreiber und 42 seien gar nicht autorisiert, schreibt die Zeitung «Folha de São Paulo».
Die verantwortliche Bergbaubehörde Agência Nacional de Mineração (ANM) listet insgesamt 769 Dämme auf, nur 425 weisen eine Risikokategorisierung auf, mehr als die Hälfte davon liegen in Minas Gerais. 84 sind genauso gebaut wie derDamm von Brumadinho. Nur zwei fallen in die höchste Risikokategorie, 61 werden als mittelriskant eingestuft.
Ausgerechnet der Damm in Brumadinho wurde hier als wenig gefährlich markiert – die Behörde verlässt sich bei den Angaben häufig auf die Betreiber. Denn im ganzen Land gibt es nur 154 Inspektoren, viel zu wenig für profunde Risikoanalysen, kritisieren Experten.
Dass die Betreiber ihre Dämme schönreden, zeigt das interne Papier von Vale. Demnach war in der Firma bereits seit Oktober 2018 bekannt, dass mehrfach Gefahr drohte: 57 Dämme wurden gemäss dem Vale-Papier evaluiert und 10 als besonders fragil kategorisiert. Der gebrochene Damm in Brumadinho war einer davon. Die Gefahrenstufe dieses 43 Jahre alten Baus war demnach doppelt so hoch wie nach Vale-internen Richtlinien zugelassen.
Laut Medienberichten enthielt das Papier auch Schadensabschätzungen. Ein Bruch in Brumadinho etwa würde demnach mehr als hundert Menschen das Leben kosten und mit 1,5 Mrd. $ Schaden zu Buche schlagen. Trotzdem taten die Verantwortlichen nichts. Selbst die Werkskantine unterhalb des 85 Meter hohen Staudamms blieb geöffnet.
Das könnte für Vale zum Problem werden: Die Staatsanwaltschaft liess 11 Angestellte vorübergehend festnehmen und Aktiven in Höhe von umgerechnet 0,25 Mrd. Fr. einfrieren.
Wussten die Direktoren und der damalige Vale-Chef Schvartsman von deninternen Einstufungen? Bei Vale bestreitet man das. Nach dem brasilianischen Korruptionsgesetz könnte die Firma allein dafür mit bis zu 7 Mrd. $ bestraft werden. Deshalb ist die Aussage eines der Ingenieure von Vales geotechnischem Risikomanagement wichtig.
Vor dem Parlamentsausschuss in Minas Gerais belastete Felipe Figueredo Rocha die Direktoren schwer: Die Probleme seien der Konzernleitung und demVerwaltungsrat von Vale bekannt gewesen. Die Firma hat seit dem Dammbruch an der Börse 15 Mrd. $ an Wert verloren. Die Investmentgesellschaft Union Investment trennte sich von ihren Anteilen, die Börse São Paulo führt Vale nicht mehr im Sustainability-Index. Internationale Pensionsfonds – sie halten ein Fünftel der Aktien – verlangen Aufklärung über Sicherheitsnormen für Tailing-Dämme.
Seit 2015 hatte Vale mehrere Dämme stillgelegt. Am 29. Januar stellte das Unternehmen einen Plan zur Stilllegung von weiteren zehn Dämmen vor – kurz bevor die Staatsanwaltschaft das interne Papier beschlagnahmte, in dem just diese Dämme als riskant aufgelistet waren. Am Tag darauf veröffentlichte die Umweltbehörde überraschend schnell eine Resolution, wonach innerhalb von zwei Jahren die gefährlichen Dämme verboten werden und alle Bergbaufirmen Pläne zum Rückbau vorlegen müssen.
Vale hat vor wenigen Tagen die Einstufung von drei weiteren Dämmen erhöht. Mehrere tausend Menschen wurden evakuiert, Probealarme schrillen regelmässig an allen zehn kritischen Dämmen, Alarme, die beim Dammbruch in Brumadinho nicht zu hören waren. Es scheint, als nehme Vale nun die Risiken ernst.
Vale hat vor wenigen Tagen die Risiko-Einstufung von drei Dämmen erhöht.
Artikel NZZ am Sonntag (27.4.2019)
Das Prüfunternehmen TÜV Süd aus Deutschland steht im Visier derStaatsanwaltschaft: Diese untersucht, wie unabhängig das Gütesiegel für dengebrochenen Damm in Brasilien erteilt wurde.
Das deutsche Prüfunternehmen TÜV Süd AG hat über seine Niederlassung inSão Paulo dem Staudamm in Brumadinho trotz kritischen Untersuchungswerten die Stabilität bescheinigt, bevor es am 25. Januar zur Katastrophe kam. Nun ermitteln die brasilianischen Behörden, wie das Gutachten zustande kam.
Die Staatsanwaltschaft vermutet, dass Verantwortliche bei Vale die Auditoren überredet hätten, ihre ursprüngliche Einschätzung zu korrigieren. Dazu soll Vale auch einen Prüf-Vertrag für weitere achtzehn Dämme als Druckmittel eingesetzt haben.
Angeblich soll auch ein deutscher Manager regelmässig zu Absprachen nach Brasilien gereist sein. Bewahrheiten sich die Anschuldigungen, wäre derImageschaden für das deutsche Prüfunternehmen enorm, das 2016 mit 24 000 Mitarbeitern weltweit umgerechnet 2,6 Mrd. Fr. Umsatz erwirtschaftet hat.
Dass der Damm in Brumadinho Probleme machte, ist seit November 2017 mehrmals auf unabhängigen Expertentagungen diskutiert worden. Freigaben wurden infrage gestellt und Prüfmethoden kritisiert.
Vale wusste Bescheid, war aber beim Durchsetzen seiner Interessen nicht zimperlich: Drei weite-re Firmen – Geoconsultoria, Potamos Engenharia e Hidrologia sowie Tractebel Engineering – wurden im Verlauf des Überprüfungsprozesses von Vale gegeneinander ausgespielt.
Als der TÜV Süd dem Damm im Juni 2018 die Betriebssicherheit erteilte, lag der berechnete Sicherheitsfaktor beinahe 20% unter dem Grenzwert. Dass die Prüfer später noch 17 Verbesserungsvorschläge für die Anlage aufgestellt haben, könnte ein weiterer Beleg sein für den Schlingerkurs bei derBegutachtung.
Noch im Juni 2018 forderte ein Geologe der Staatsanwaltschaft von Minas Gerais weitere Informationen über den Damm in Brumadinho an. Vale lieferte die Dokumente fünf Monate später per Anwalt, inklusive TÜV-Zertifikat und Antrag auf Einstellung der Untersuchung.
Wie der TÜV Süd jetzt in einer vorsichtigen Stellungnahme einräumt, ist dergeborstene Damm womöglich kein Einzelfall: Eine unabhängige Kommission habe Zweifel an der Stabilität von bisher acht der zertifizierten Dämme geäussert. Weitere Angaben zu den Ermittlungen machte der TÜV auf Anfrage nicht.
Es geht bei den Vorwürfen auch um ein grundsätzliches Problem: um die Abhängigkeit des Gutachters vom Auftraggeber, der die Untersuchung bezahlt. Hätte Vale die Anlage in Brumadinho schliessen müssen, wären demKonzern Umsätze von vermutlich bis zu 1 Mio. $ täglich entgangen.