Ausgangsstoffe für Chemiewaffen gelangten aus der Schweiz nach Syrien. Für Medikamente, erklärte Novartis. Neue Dokumente widersprechen dem.
Artikel von der BaslerZeitung (25.6.2019)
Seit mehr als einem Jahr steht die Frage im Raum, ob eine Lieferung heikler Chemikalien von Basel nach Syrien im Jahr 2014 in die falschen Hände gelangt ist. Die beiden exportierten Stoffe Isopropanol und Diethylamin kann man sowohl zur Herstellung von Medikamenten verwenden als auch für die Chemiewaffen Sarin beziehungsweise VX. Sarin wurde in Syrien nachweislich schon gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt.
Die beiden Ausgangsstoffe kamen ursprünglich von Deutschland und Belgien nach Basel. Von dort lieferte sie die Brenntag Schweizerhall AG nach Syrien, angeblich zur Herstellung eines Medikaments von Novartis. Auf Anfrage versicherte Novartis dem Staatssekretariat für Wirtschaft Seco im Jahr 2018, dass das Isopropanol vollständig für die Produktion des Schmerzgels Voltaren aufgebraucht worden sei. Der Basler Pharmariese stützte sich dabei auf Angaben aus Syrien. Neue Dokumente belegen jetzt, dass die syrischen Informationen wahrscheinlich falsch waren. Die Frage, was mit diesen heiklen Stoffen wirklich geschah, wird damit immer drängender.
Die Staatsanwaltschaften in Antwerpen und in Essen, wo die Chemikalien ursprünglich herkamen, haben nun Verfahren eröffnet, wobei Antwerpen den Fall wegen seines internationalen Charakters inzwischen an die Bundesanwaltschaft in Brüssel abgegeben hat. Dies nachdem die drei NGOs Trial International, Syrian Archive und Open Society Justice Initiative Strafanzeige erstatteten. Die Ermittler müssen eine komplizierte Lieferkette aufschlüsseln. Der Recherchedesk von Tamedia hat zusammen mit der «Süddeutschen Zeitung» und dem «Report München» der ARD die sechs Etappen der Affäre rekonstruiert:
1.
Nach den Horrorbildern eines Sarin-Einsatzes gegen die Zivilbevölkerung willigte Syriens Präsident Bashar al-Assad 2013 ein, seine Chemiewaffen und deren Ausgangsstoffe zu zerstören. Das Schweizer Aussendepartement EDA zahlte damals eine Million Franken an die medienwirksame Vernichtungsaktion. Unter den zerstörten Stoffen befand sich auch eine Substanz namens Isopropanol.
2.
Ende 2014 – also noch während der Vernichtungsaktion – lieferte Brenntag aus Basel 5,12 Tonnen genau dieses Isopropanols wieder nach Syrien. Dazu kamen noch 280 Kilogramm Diethylamin, ein Ausgangsstoff für den Nervenkampfstoff VX. Die beiden Substanzen kamen aus Deutschland und Belgien. In der EU gab es damals bereits Ausfuhrbeschränkungen für die beiden Stoffe nach Syrien, aber in die Schweiz konnte man sie frei liefern. Hierzulande wiederum durfte man die Chemikalien bis 2018 ungehindert nach Syrien ausführen.
Entsprechend sagte die Firma Brenntag bereits Anfang Jahr: «Das Produkt Isopropanol wurde von Brenntag im Einklang mit dem geltenden Recht geliefert.» Das Seco habe bestätigt, dass der Export korrekt abgewickelt worden sei. «Brenntag hat ein umfassendes Exportkontrollsystem, das sicherstellt, dass die jeweils anwendbaren nationalen und internationalen Exportvorschriften eingehalten werden.» Das EDA wusste nichts von der Ausfuhr. Nach Angaben eines EDA-Mitarbeiters hätte das Aussendepartement das Geschäft sonst unterbunden.
3.
Brenntag lieferte die Stoffe an den syrischen Medikamentenhersteller Mediterranean Pharmaceutical Industries (MPI) in Damaskus, dessen damaliger Besitzer dem Assad-Regime nahestand. Doch die Basler versicherten, die Stoffe dienten der Herstellung von Medikamenten. 2014 war MPI Lizenznehmerin des Basler Pharmariesen Novartis. Die Syrer produzierten für Novartis unter anderem Voltaren-Schmerzgel und Voltaren-Schmerztabletten. Dafür braucht man tatsächlich Isopropanol und Diethylamin, und zwar in einer Konzentration von mehr als 99 Prozent – wie bei Nervenkampfstoffen.
4.
2018 berichtete das Westschweizer-Fernsehen RTS aufgrund von UNO-Exportstatistiken, dass Isopropanol auch aus der Schweiz nach Syrien gelangt sei. Erst jetzt wurde das Seco aktiv und verlangte eine «vollumfängliche und sehr rasche Klärung der Endverwendung». MPI schickte nun so genannte «Herstellungsdokumente» an Novartis. Darin ist nachzulesen, dass das ganze von Brenntag exportierte Isopropanol zwischen Januar 2015 und Dezember 2017 für Voltaren-Schmerzgel verwendet worden sei. Am 22. Mai 2018 mailte Novartis diese Dokumente ans Seco und schrieb, dies sei nun der Beleg, dass «die ganze Menge so aufgebraucht wurde».
5.
Jetzt zeigen neue Recherchen, dass die von MPI gelieferten Herstellungsdokumente wahrscheinlich falsch sind. MPI stellt das Voltaren-Schmerzgel nämlich schon seit Jahren nicht mehr her. Das geht aus einer Stellungnahme der britischen Firma GlaxoSmithKline (GSK) hervor. GSK hatte im März 2015 ein Joint Venture mit Novartis ins Leben gerufen, in das die Basler ihre nicht-rezeptpflichtigen Medikamente, darunter Voltaren Emulgel, einbrachten. Die Briten entschieden im August 2015 – auch mit Blick auf die bestehenden Sanktionen – die Produktionsvereinbarung mit MPI zu beenden. Es ist folglich kaum möglich, dass MPI nach 2015 noch Voltaren-Schmerzgel produzierte, wie in den von Novartis ans Seco geschickten Dokumenten behauptet. Mehrere von dieser Zeitung angefragte Apotheken in Syrien bestätigten ausserdem, dass von MPI hergestelltes Voltaren Emulgel schon seit Jahren nicht mehr erhältlich ist.
6.
Dieser Zeitung liegen ausserdem interne Dokumente eines anderen Unternehmens vor, das 2018 bei MPI nach dem Isopropanol aus Basel fragte. Die Syrer legten dieser Firma nun plötzlich andere Herstellungsdokumente vor als jene, die sie Novartis geschickt hatten. Erstens gab MPI jetzt an, dass der Stoff nur in Kleinstmengen für die Beschichtung von Voltaren-Tabletten und nicht für Schmerzgel eingesetzt wurde. Zweitens führte MPI auf einmal eine andere Losnummer für die Chemikalie. Und drittens belegten die neuen Dokumente nur die Verwendung von 1'120 Kilogramm des Basler Isopropanols. Es fehlten also plötzlich Angaben, was genau mit den restlichen vier Tonnen der Chemikalie geschehen war.
Das Fazit dieser Rekonstruktion
Es lässt sich heute nicht komplett ausschliessen, dass Syrien diese vier Tonnen Isopropanol ab 2015 anders verwendete – schlimmstenfalls auch zur Herstellung von Kampfstoffen. 2017 setzte das Assad-Regime wieder Sarin ein, das nach UN-Angaben auf Basis von Isopropanol hergestellt worden war – obwohl doch alle Chemiewaffen und Ausgangsstoffe zuvor angeblich vernichtet worden waren. Woher das Regime die Ausgangsstoffe hatte, ist unklar. Die Frage nach dem Verbleib des Isopropanols aus Basel ist also entscheidend.
Letzten Februar sagte Novartis auf Anfrage, die Herstellungsdokumente von MPI «belegen, dass das Isopropanol vollumfänglich für die Herstellung von Voltaren Emulgel verwendet worden ist». Konfrontiert mit den neuen Recherchen sagt die Firma nun, sie sei nicht die Exporteurin des Isopropanols an MPI und habe mit der Weiterreichung der MPI-Dokumente lediglich ihre «guten Dienste als Vermittler» zur Verfügung gestellt. «Beurteilen» müsse diese Dokumente aber das Seco. Die Frage, ob die Firma ausschliessen kann, dass die Stoffe anders verwendet wurden, liess Novartis unbeantwortet.
Dafür sagt der Basler Pharmariese jetzt, man habe das Voltaren-Schmerzgel ja 2015 in das Joint Venture mit der britischen GSK eingebracht. «Deshalb sieht sich Novartis nicht in der Lage, dazu Stellung zu nehmen, ob GSK Healthcare die Produktions- und Vertriebsvereinbarung mit MPI gekündigt hat beziehungsweise wie lange MPI noch weiter Voltaren-Emulgel für GSK Healthcare hergestellt haben könnte.»
Novartis hielt allerdings bis letztes Jahr 36,5 Prozent an diesem Joint Venture. Weil die Basler im Führungsgremium des Konsortiums bis 2018 vier von insgesamt elf Sitzen belegten, hätten sie vom Ende der Produktionsvereinbarung mit MPI wissen können, als sie das Seco über die angebliche Verwendung des Isopropanols informierten.
Dass Novartis auch wusste, wie wenig man MPI trauen konnte, belegt ein interner Bericht des Unternehmens, der dieser Zeitung vorliegt. Darin werfen die Basler der syrischen Pharmafirma Mängel bei der Dokumentation von Prozessen und bei der Archivierung von Akten vor. Als Novartis dem Seco die Herstellungsdokumente von MPI weiterreichte, hat die Firma diese Mängel allerdings nicht erwähnt.
Artikel BaslerZeitung (25.6.2019)