In der französischen Kleinstadt Vittel füllt der Schweizer Konzern Nestlé täglich mehr als zwei Millionen Flaschen Mineralwasser ab. Die Folge: der Grundwasserpegel sinkt. Eine Pipeline soll nun die Lösung bringen. Doch die Bevölkerung wehrt sich.
Ein Bericht von Deutschlandfunk Kultur (13.2.2019)
Das Firmenschild an der Einfahrt zur Abfüllanlage in Vittel zeigt die Namen der vertriebenen Marken des Unternehmenbereichs „Nestlé Waters Vosges“. (Foto Stefanie Otto)
Die Schafe sind sein ganzer Stolz. Wenn Benoît Gille morgens seine Herde besucht und nach dem Rechten schaut, hat er ein Leuchten in den Augen. An diesem kalten Wintermorgen sind die Tiere ganz wild auf das Futter, das der Landwirt mit dem grauen welligen Haar und im Arbeitsoverall ihnen bringt.
Benoît Gille wollte schon immer Schäfer werden. Vor elf Jahren schaffte er sich die ersten Schafe an. Vor fünf Jahren fand er das passende Stück Land. Auf einer Apfelplantage nahe Vittel züchtet er 700 Shropshire-Schafe – eine Rasse, die keine Baumrinde frisst. So kann der 58-Jährige Schafzucht und den Obstanbau verbinden. Es könnte eine Erfolgsgeschichte der biologischen Landwirtschaft sein, weil die Tiere die Obstwiesen auf natürliche Weise pflegen und biologisch düngen. Doch seit der Landwirt die Plantage übernommen hat, werden ihm Steine in den Weg gelegt.
„Die Besonderheit dieser Plantage hier ist, das Nestlé hier gerade einen neuen Brunnen errichtet hat. Er ist da hinten links. Er wird gerade an die Kanalisation angeschlossen. So etwas passiert hier. Aber für uns gibt es hier kein Wasser.“
Zwei Schafe der Herde von Benoît Gille. Der Schafzüchter hat die Flächen der Obstplantage von Nestlé zur Verfügung gestellt bekommen. Zum Schutz der unterirdischen Wasserressourcen darf er jedoch kein Wasser aus den dort vorhandenen Brunnen holen. (Foto Stefanie Otto)
Die Wiesen gehören zu Nestlé
Bis zu vier mal am Tag muss Benoît Gille mit seinem Pick-up und einem 1000-Liter-Tank auf der Ladefläche in die Nachbargemeinde fahren, um Trinkwasser für seine Schafe zu holen. Und das, obwohl es hier genügend Wasser gäbe. Die Gegend um Vittel ist für die Qualität ihres Mineralwassers berühmt. Doch die Wiesen mit den rund 30.000 Apfelbäumen gehören nicht dem Schafzüchter, sondern einer Tochtergesellschaft von Nestlé.
„Nestlé hat uns eine Obstplantage zur Verfügung gestellt. 73 Hektar Apfelbäume, die noch nie geblüht hatten. Nach einem Jahr mit unseren Schafen und unseren Methoden der biologischen Bewirtschaftung sind die Mikroorganismen im Boden langsam wiedergekommen. Das war ein gutes Zeichen. Und dann haben die Apfelbäume in ihrem elften Jahr zum ersten Mal geblüht.“
Nach seiner ersten Runde zu den Schafen macht Benoît Gille einen Zwischenstopp auf dem Hof. Beim Frühstück bespricht er mit seiner Frau Ghislaine die Aufgaben für heute. Der fehlende Wasserzugang und die Politik von Nestlé sind für sie ein tägliches Ärgernis. Und damit sind sie nicht allein. 30 Landwirte, vor allem Viehzüchter und Milchbauern, sind bei der Nestlé-Tochter „Agrivair“ unter Vertrag. Die Flächen werden ihnen kostenfrei zur Verfügung gestellt. Im Gegenzug müssen sie sich an zahlreiche Auflagen halten. Dadurch sollen die Wasservorkommen im Untergrund vor Verunreinigungen geschützt werden.
„Um zu verhindern, dass der Boden mit Nitraten belastet wird, haben sie die beiden Brunnen auf der Plantage verschlossen. Das ist legal. Wir haben hier also keinen Wasserzugang und sind gezwungen das Wasser für unsere Tiere im Nachbardorf zu holen. In unserem Dorf ist das Wasser im Sommer schon knapp. Dann brauchen wir fünf Stunden täglich, 50 Kilometer sind es, um das Wasser herbeizuschaffen. Und das für unsere Schafe, die doch die Wasserressourcen schützen.“
Seit fünf Jahren nun arbeiten Benoît Gille und seine Frau daran, die Apfelbäume zu rekultivieren und ihre Schafe zu züchten, ohne dabei den Boden zu belasten. Beim Obst war die Mühe bislang vergeblich. Die mickrigen Bäume, die von Nestlé gepflanzt worden waren, haben erst zweimal Früchte getragen.
Vittel ist als französische Mineralwassermarke international bekannt. In jedem Supermarkt gibt es die Flaschen mit dem rot-weißen Schriftzug zu kaufen. Dass Nestlé dahinter steht, wissen die wenigsten. Bereits zwei Drittel der Agrarflächen im Wasserschutzgebiet von Vittel sind im Besitz des Schweizer-Großkonzerns. So wie die Landwirte bereits Wasser für ihre Tiere herbeischaffen müssen, sollen auch die Anwohner von Vittel bald nur noch Wasser über eine Pipeline bekommen. Verbraucher- und Naturschutzorganisationen fürchten, dass Nestlé sich künftig den alleinigen Zugang zu den Wasservorkommen im Untergrund sichern wird. Ein Teil der Quellen ist bereits der Produktion des Konzerns vorbehalten.
Die Besitzverhältnisse rund um das Trinkwasser von Vittel sind eng verbunden mit der Geschichte des Ortes als Heilbad. Die glorreiche Zeit begann etwa um die Jahrhundertwende, als man erkannte, dass das Wasser der kalten Quellen die Heilung von Stoffwechsel- und Lebererkrankungen fördert. 1894 eröffnete das erste Thermalbad. Seither ist ein Teil der Quellen im Besitz der Thermenbetreiber. Die Trinkwasserversorgung für die Bevölkerung kam lange Zeit aus oberflächlichen Vorkommen. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Böden der Gegend durch Waffen und Munition verseucht. Deshalb ging man ab 1950 dazu über, das Trinkwasser aus einer tiefliegenden Buntsandsteinschicht zu pumpen.
Ein Wasserdefizit von einer Million Kubikmeter pro Jahr
Die sogenannte „Bonne Source“, die gute Quelle, in 250 Metern Tiefe ist sehr rein und mineralarm. Anfang der 90er-Jahre übernahm der Nestlé-Konzern die Thermen und damit auch die Nutzungsrechte für die Quellen. Wobei die „Bonne source“ sowohl von Nestlé als auch von der Bevölkerung genutzt wird. Was in Vittel aus dem Wasserhahn kommt ist also dasselbe Wasser wie in den Millionen Plastikflaschen. Diese wertvolle Ressource ist im Laufe der Jahre jedoch stark dezimiert worden. Das Defizit, also die Differenz zwischen Entnahmen und natürlicher Regenerierung durch Regenwasser, beträgt Schätzungen zufolge etwa eine Million Kubikmeter pro Jahr. Das entspricht einem Volumen von rund 500 olympischen Schwimmbecken.
Um eine Lösung zu finden, hat die Verwaltung im Jahr 2010 die sogenannte Wasserkommission eingesetzt. 46 Mitglieder sitzen in der Kommission, darunter Vertreter des Staates, der lokalen Behörden, der Wirtschaft und der Verbraucher. Sie hat Strategien für Einsparungen und zum Ausgleich des Defizits erarbeitet.
„Die Bürgerbeteiligung läuft gut“
Mit Informationsveranstaltungen sollen die Anwohner von Vittel und Umgebung nun über die Situation aufgeklärt werden. Im Januar fand im Gemeindesaal ein Workshop statt, in dem die Bürger ihre Meinung zu den Vorschlägen der Kommission äußern konnten. Etwa 200 Teilnehmer hatten sich eingefunden: vor allem Anwohner, Landwirte und Lokalpolitiker, aber auch Umwelt- und Verbraucherschützer, Vertreter von Nestlé und die Vorsitzende der Wasserkommission, Régine Bégel.
„Die Bürgerbeteiligung läuft gut. Die Leute tauschen sich aus und diskutieren. So werden wir sicher eine Lösung finden, die alle zufrieden stellt. Einerseits muss die Natur geschont werden. Andererseits aber auch die lokale Wirtschaft, die für die Region hier sehr wichtig ist. Denn ohne Partei für diesen Konzern ergreifen zu wollen, schafft Nestlé doch viele Arbeitsplätze. Das hat Auswirkungen auf den ganzen Westen der Vogesen. Wenn sie nicht da wären, dann bräuchten wir auch nicht nach Lösungen gegen Wassermangel suchen. Denn dann wären hier kaum noch Menschen. Ich bin der Meinung, man sollte beides berücksichtigen, die Interessen der Wirtschaft und die natürlichen Ressourcen.“
An zwölf großen viereckigen Tischen sitzen die Teilnehmer des Workshops und blättern in den Unterlagen, die von der Verwaltung vorbereitet wurden. Nach kurzen Vorträgen über die aktuelle Situation sollen sie Fragebögen ausfüllen, in denen sie Prioritäten festlegen sollen. Wer soll Vorrang bei der Wassernutzung haben? Wo soll eingespart werden? Und welche Preissteigerung würden sie akzeptieren? Doch eines ist hier bereits allen klar: Allein mit Einsparungen ist das Problem nicht zu lösen.
Am Abend des 24. Januar 2019 fand im Gemeindesaal von Contrexéville (nahe Vittel) ein Workshop zur Bürgerbeteiligung statt. Dabei ging es darum, Lösungsvorschläge zur Milderung des Defizits im Trinkwasservorkommen der Stadt zu finden. (Foto Stefanie Otto)
Nestlé hat den Verbrauch bereits zurückgefahren
Schon im Jahr 2014 hatten Studien gezeigt, dass Haushalte, Tourismus, Industrie und Landwirte maximal 600.000 Kubikmeter Wasser pro Jahr einsparen können – bei Weitem nicht genug also, um das Defizit auszugleichen. Fast ein Drittel davon will Nestlé beisteuern. Das Unternehmen besitzt die Lizenz des Präfekten eine Million Kubikmeter pro Jahr abzupumpen. Sie hätten ihren Verbrauch aus der betroffenen Quelle bereits um ein Viertel zurückgefahren, erklärt Hervé Levis, Standortleiter der Abfüllanlage in Vittel.
„Die Besonderheit dieser Gegend hier ist, dass es mehrere wasserführende Schichten im Untergrund gibt. Nur eine dieser Schichten weist ein Defizit von einer Million Kubikmetern auf. Und wir sind nur einer der Verursacher dieses Defizits. Wir haben bereits angekündigt, dass wir die Entnahmen aus dieser Quelle reduzieren werden. Und das alles tun wir natürlich unter strikter Beachtung der Gesetze und im Rahmen der behördlichen Vorgaben.“
Bleibt immer noch ein Defizit von 400.000 Kubikmetern. Also sah sich die Kommission nach Alternativen um und kam auf die Idee, das Wasser andernorts zu suchen.
„Ein Lösungsweg ist, das Wasser aus dem Sektor Südost zu holen. Tatsächlich gibt es dort viel davon. Es muss nur noch untersucht werden, wie viel wir dort wirklich entnehmen können.“
Eine Studie hatte ergeben, dass sich das Defizit nur auf den Sektor Südwest der wasserführenden Schicht beschränkt, also dort wo sich Vittel und die Anlagen von Nestlé befinden. Im östlich gelegenen Sektor sei aufgrund geologischer Voraussetzungen sogar mehr Wasser vorhanden, als derzeit genutzt werde.
Das Trinkwasser in Vittel nur noch für Nestlé?
Der Vorschlag der Kommission lautet daher: Das Trinkwasser für die Bevölkerung von Vittel und Umgebung soll über eine Pipeline aus einer 15 Kilometer entfernten Gemeinde im Osten von Vittel gepumpt werden. Geschätzte Kosten: 15 bis 30 Millionen Euro. Nach diesem Szenario könnte der Nestlé-Konzern weiter wie gehabt abpumpen.
„Die Wasserkommission hat mögliche Szenarien untersucht, um alle Bedürfnisse zufriedenzustellen. Wir haben in der Kommission eine Stimme. Und wir haben dabei geholfen diese Lösung auszuarbeiten. Die Mitglieder der Kommission haben dann mehrheitlich dafür gestimmt, das fehlende Wasser durch den Anschluss an andere Quellen auszugleichen. Und wir haben uns entschieden, einen Teil der Kosten für diese Lösung zu übernehmen. Das ist unser Beitrag, damit die Wasserpreise für die Verbraucher künftig nicht steigen.“
Die Alternative zur Pipeline
Doch ist die Pipeline wirklich die einzige Lösung? Ein Zusammenschluss von Verbraucher- und Naturschutzverbänden ist da ganz anderer Meinung. Sie wehren sich dagegen, das Trinkwasser in Vittel allein dem Konzern zu überlassen und wurden bisher in der Wasserkommission überstimmt. Sie haben einen Alternativvorschlag erarbeitet, der ohne Pipeline auskommt. Jean-François Fleck vom Naturschutzverein „Vosges Nature Environnement“ stellt ihn den Teilnehmern des Workshops vor:
„Die Bedürfnisse der Bevölkerung haben Vorrang. Und das funktioniert nur, wenn Nestlé das Abpumpen an dieser Quelle einstellt. Aber diese Einbußen könnten sie kompensieren. Denn Nestlé besitzt auch noch Rechte an anderen Quellen im Muschelkalk. Das Wasser von dort nutzen sie bereits für ihre Prozesse. Und dort haben sie mittlerweile auch eine Lizenz zum Abfüllen als Trinkwasser.“
Nestlé-Mitarbeiter fürchten um ihren Arbeitsplatz
Unter den Teilnehmern des Workshops sind auch viele Mitarbeiter des Konzerns. Was passieren würde, wenn Nestlé seine Produktion einschränken oder sogar ganz aufgeben müsste, wollen sie sich nicht ausmalen. Mit 1000 Angestellten ist Nestlé der größte Arbeitgeber weit und breit und zudem ein finanzkräftiger Steuerzahler. Früher gab es in der ländlichen Region noch mehr Industrie, vor allem in der Textilherstellung. Doch in den meisten Fällen wurde die Produktion ins Ausland verlagert. Mit den großen Fabriken gingen auch die indirekten Arbeitsplätze verloren. Das hat die Menschen hier geprägt. Im Streit um das Wasser fürchten deshalb viele um ihren Arbeitsplatz.
„Das Wasser aus der Quelle ‚Bonne Source‘ ist für den deutschen Markt bestimmt. Die deutschen Kunden schätzen dieses Wasser sehr. Jenes aus den anderen Quellen, das wir in Frankreich verkaufen, mögen sie nicht so recht. Wenn man uns also verbietet zu pumpen wie bisher, werden wir nichts mehr nach Deutschland verkaufen können. Dann würde uns ein großer Markt verloren gehen. Und wenn der Absatz sinkt, wird der Standort hier möglicherweise als unrentabel erklärt. Deshalb fürchten wir um unsere Stellen.“
Die Wasserkommission wird über die Pipeline entscheiden
Diese Mitarbeiterin von Nestlé und viele andere werden daher für das Modell der Pipeline plädieren. Die in den Bürger-Workshops „gewonnenen“ Meinungen werden später zusammengefasst und der Wasserkommission vorgelegt. Die Ergebnisse haben aber nur konsultativen Charakter. Nach der Phase der Bürgerbeteiligung werden die 46 Mitglieder der Wasserkommission abstimmen, ob die Pipeline kommen soll oder nicht. Bis dahin müssen noch weitere Studien durchgeführt werden. Zeit, die die Verbraucher- und Umweltschützer nutzen wollen, um weiter gegen die Pipeline zu protestieren.
Bernard Schmidt und seine Frau haben zum Kaffeetrinken eingeladen. Ihr Haus befindet sich nicht weit entfernt vom Kurpark in Vittel. Im Wohnzimmer stehen antike Sessel und Bücherregale. Bernard Schmitt ist pensionierter Mediziner und vor kurzem nach Vittel gezogen, um hier den Ruhestand zu verbringen. Weil er sehr naturverbunden ist, engagiert er sich in einem regionalen Naturschutzverein. Diesem Verein steht ein Sitz in der Wasserkommission zu. Bernard Schmitt wurde gebeten, den Verein dort zu vertreten.
Bürgerprotest gegen die Pipeline organisiert sich
Bereits im April 2016 stimmten er und drei weitere Vertreter von Umwelt- und Verbraucherschutzverbänden gegen das Vorhaben eine Pipeline für Vittel zu bauen. Seither haben sie sich zum „Collectif Eau 88“ zusammengeschlossen. Hier findet also kein normales Kaffeekränzchen statt. Die Mitglieder des Kollektivs beraten über ihre nächsten Protestaktionen. Von den Workshops zur Bürgerbeteiligung, die die Verwaltung organisiert hat, ist Bernard Schmitt enttäuscht.
„Wir glauben nicht daran, dass diese Bürgerbeteiligung etwas bringt. Das wird nur gemacht, um die Gemüter zu beruhigen. Außerdem hat Nestlé viele seiner Mitarbeiter mobilisiert, dort hinzugehen. Wir waren da vollkommen in der Minderheit. Und dann wird die Verwaltung sagen: Das Kollektiv hatte Gelegenheit seine Meinung zu äußern, aber die Bevölkerung denkt anders darüber. Und dann werden sie doch zugunsten der Pipeline entscheiden.“
„Nestlé wird Vittel nicht verlassen“
Zum Thema Arbeitsplätze hat das Kollektiv eine andere Sichtweise als die Mitarbeiter von Nestlé. Sie glauben nicht, dass der Konzern die Region verlässt, wenn er gezwungen wäre, seine Produktion an der einen Quelle einzustellen.
„Die Leute denken nur an die kurzfristigen Folgen. Ja, wir fordern von Nestlé ein Viertel ihrer Produktion einzustellen. Das ist zunächst einmal ein Opfer. Nestlé nutzt das aus und droht mit der Entlassung von 200 Angestellten oder sogar mit der Aufgabe des Standorts. Deshalb sind die Menschen hier verängstigt. Aber Nestlé wird Vittel nicht verlassen. Denn die Marke Vittel gehört zu ihrem internationalen Image. Keine Tour de France ohne Vittel. Und schon bald kommen die Olympischen Spiele nach Paris. Auch da will Nestlé mit Wasser aus Vittel Hauptsponsor sein. Der Konzern wird es sich also gut überlegen müssen, hier dichtzumachen.“
Familienbande zwischen Kommission und Nestlé
Mehr Sorgen bereitet ihnen ein Interessenkonflikt innerhalb der Wasserkommission. Im letzten Jahr stellten sie fest, dass die damalige Vorsitzende der Kommission mit einem hochrangigen Mitarbeiter von Nestlé verheiratet ist. Sie berieten sich mit einem Verband, der sich mit solchen Fällen auskennt und erstatteten Anzeige. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft laufen bis heute. Die Wasserkommission hat mittlerweile eine neue Vorsitzende. Angesichts der tiefgreifenden Verstrickungen des Konzerns mit den lokalen Strukturen ist es dem Kollektiv vor allem wichtig, die Bevölkerung mit Informationen zu versorgen. Christiane Lecoanet vom Verbraucherverband UFC sieht da die Schuld bei der Verwaltung.
„Wir haben letzten Sommer eigene Infoveranstaltungen organisiert. Da fielen die Leute aus allen Wolken. Niemand hatte sie informiert. Unter den Besuchern war sogar ein Bürgermeister aus der betroffenen Gegend, wo die Pipeline entstehen soll. Auch er wusste von nichts. Das ist unglaublich! Dazu kommt, dass die Materie so komplex ist. Im Vergleich zum Riesen Nestlé fühlen sich die Verbraucher klein und machtlos.“
Ein Skandal, der gerade in Vittel passiert?
Das Kollektiv ist mittlerweile gewachsen und zählt etwa 300 Mitstreiter. Zusammen organisieren sie Demonstrationen, tauschen sich mit Experten über die neuesten Studien zum Wasserdefizit aus und informieren mit Flugblättern und im Internet über die Situation. Neben den Veranstaltungen vor Ort haben die Bürger auch die Möglichkeit im Internet Einwendungen an die Wasserkommission zu senden. Jean-François Fleck, der auch in der Kaffeerunde bei Bernard sitzt, ist begeistert von den zahlreichen Beiträgen. Bereits 3000 Personen haben diese Möglichkeit genutzt. So wie auch das Kollektiv, sehen viele der Absender einen Skandal in dem, was gerade in Vittel passiert.
Schlussendlich liegt die Entscheidungsgewalt für das Pipeline-Vorhaben im zentral organisierten Frankreich jedoch beim Präfekten. Und dieser ist nur dem französischen Präsidenten verpflichtet. Notfalls werde man vor Gericht ziehen, erklärt Jean-François Fleck vom Naturschutzverein „Vosges Nature Environnement“.
„Das französische Wasser-Gesetz wie auch eine EU-Richtlinie besagen eindeutig, dass die lokale Bevölkerung bei der Nutzung der Wasservorkommen Priorität hat. Die Entscheidungen des Präfekten ignorieren das und gestehen der Industrie zu viel Wasser zu. Diese Lizenzen müssen also revidiert oder zumindest reduziert werden, um gesetzeskonform zu sein. Und wenn der Präfekt das nicht tut, werden wir eben gerichtlich dagegen vorgehen.“
Strohballen mit Protestslogans
Nimmt man die Landstraße von Vittel Richtung Osten, kommt man nach etwa einer Viertelstunde ins Dorf Valfroicourt. Dort würden die Brunnen gebaut werden, die zukünftig per Pipeline Trinkwasser nach Vittel bringen sollen. Als im letzten Sommer ein ortsansässiger Landwirt davon erfuhr, stellte er an der Straße Strohballen auf und bemalte sie mit Protestslogans. Weithin sichtbar errichtete er auch ein riesiges Tor aus Strohballen mit der Aufschrift „Tor zur Wüste“. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Streit rund um das Wasserdefizit von Vittel eher die Gemüter vor Ort erhitzt. Nach dem Bekanntwerden der Pipeline-Pläne regte Widerstand im ganzen Department Vogesen. Auch immer mehr ausländische Medien wurden auf den Fall aufmerksam. Vielleicht waren es diese Strohballen, die hier im sogenannten Sektor Südost etwas ins Rollen brachten.
Sylvain Fransot ist Bürgermeister in Gummistiefeln. Dem Mann in Wollpullover und Jeans sieht man an, dass er viel zu tun hat. Eigentlich ist er Viehzüchter. Seit fünf Jahren kümmert er sich auch um die Belange der 150-Seelen-Gemeinde Vioménil, die eine halbe Autostunde südöstlich von Vittel liegt.
Durch Kollegen erfuhr er von den Plänen, in einer Nachbargemeinde Wasser für die Versorgung der Stadt Vittel abzupumpen. Mit 20 weiteren Bürgermeistern und Gemeindevertretern hat er ein Kollektiv gebildet, um sich gemeinsam gegen die Politik von Nestlé und die drohende Pipeline zu wehren.
„Natürlich haben wir Bedenken. Die Wasserreserven von Vittel sind bereits um mehrere Meter gesunken. Das ist allgemein bekannt. Warum also sollten wir zulassen, dass sie das Wasser von uns holen. Was ist, wenn dann in 10, 20 oder 50 Jahren hier dasselbe Problem auftaucht? Wo sollen wir dann hingehen, um unseren Durst zu stillen?“
Eine Strohballenkonstruktion, die den Protest der Gemeinde Valfroicourt ausdrückt. „Porte du désert“ bedeutet „Tor zur Wüste“. Die Anwohner fordern Nestlé auf, nicht mehr ihr Trinkwasser abzupumpen. Sie fürchten negative Folgen für das Ökosystem. (Foto Stefanie Otto)
„Nestlé muss seine Produktion einschränken“
Sylvain Fransot und seine Kollegen befürchten, dass das sensible Gleichgewicht ihrer Gemeinden, die vorwiegend von der Landwirtschaft leben, durch die Pipeline gestört werden könnte. Deshalb haben sie einen Appell verfasst, den sie an alle Gemeinden des Departments gesendet haben. Darin heißt es:
„Ein Privatunternehmen darf nur dann die Erlaubnis bekommen, Wasser abzufüllen, wenn gesichert ist, dass die natürlichen Reserven dadurch nicht dezimiert werden. Wir fordern, dass Nestlé weniger Wasser abpumpt. Und dass alle Beteiligten Wasser einsparen. Wenn sich alle dem Problem bewusst sind, können wir das Defizit wieder ausgleichen. Das wird zwar sehr lange dauern, aber das ist meiner Meinung nach die beste Lösung. Nestlé muss seine Produktion einschränken.“
Für Bürgermeister wie ihn ist es nicht leicht, Front gegen die Verwaltung zu machen. Immerhin vertritt er nur eine kleine Gemeinde. Doch mit dem Protest gegen Großprojekte haben er und seine Kollegen schon Erfahrung. Vor zehn Jahren sollte im Nachbardorf eine riesige Biogasanlage errichtet werden. Durch die Aufklärung der Anwohner und die Überprüfung der Zahlen konnten sie das Vorhaben abwenden. Jetzt ist er zuversichtlich, dass es auch für Vittel eine andere Lösung als eine Pipeline gibt.
Radiobericht unter Deutschlandfunk Kultur (13.2.2019)