Das Versprechen, die Kinderarbeit auf den ivoirischen Kakaoplantagen zu beseitigen, ist zwanzig Jahre alt. Fortschritte gab es seither kaum. Was läuft schief?
Artikel aus der NZZ (9.6.2020)
Henri Kahon steht neben einem Berg gelber Kakaoschoten und wartet auf seiner Plantage auf Verstärkung. Heute wird die Ernte eingebracht. Er rechne mit achthundert Kilogramm, sagt der Vierundvierzigjährige und beginnt, die harten Früchte zu entkernen. «Nicht schlecht, aber weniger als letztes Jahr.»
Bald treffen die ersten Helfer ein, alles Männer aus Zorofla, einem nahen Dorf im ivoirischen Hinterland. Etwas später stossen Kahons Kinder dazu. Die drei Buben – sie sind sieben, zehn und dreizehn Jahre alt – tragen die Bohnen in aufgeschnittenen 25-Liter-Kanistern auf einen kleinen Laster, den der Bauer für diesen Tag gemietet hat. Die beiden älteren Söhne helfen auch beim Entkernen mit der Machete.
Müssten sie an diesem Freitag nicht in der Schule sein? «Heute nicht», sagt Kahon. Französisch – die Schulsprache in Côte d’Ivoire – scheinen die Buben kaum zu verstehen.
Mehr als eine Million Kinder auf den Kakaoplantagen
Szenen wie diese sollten in dem westafrikanischen Land, dem grössten Kakaoproduzenten der Welt, längst der Vergangenheit angehören. Als um die Jahrtausendwende bekanntwurde, dass auf den ivoirischen Kakaoplantagen Hunderttausende von Minderjährigen arbeiteten, war allenthalben Besserung versprochen worden. Geschehen ist seither wenig. Gemäss einer noch unveröffentlichten Studie der University of Chicago sind es auch heute weit über eine Million Kinder, die in Côte d’Ivoires Kakaosektor schwere und gefährliche Arbeiten erledigen, die meisten auf der Plantage der eigenen Familie. In den vergangenen zehn Jahren ist deren Zahl demnach gar um zehn Prozent angestiegen.
Dabei hatten die grossen Schokoladenhersteller bereits 2001 versprochen, die Kinderarbeit in ihrer Lieferkette zu beseitigen – zuerst bis 2005, dann bis 2008, dann bis 2010. Auch das neuste, bescheidenere Ziel, die Zahl der Betroffenen bis 2020 um 70 Prozent zu verringern, wird sehr deutlich verfehlt.
Die Begründungen von Industrievertretern bleiben meist vage. Viele sprechen von der «Komplexität des Problems» und verweisen darauf, dass Fortschritte nur dann möglich seien, wenn auch die Regierung ihre Verantwortung übernehme. Von ambitionierten Versprechungen hält das die Firmen freilich nicht ab. «Wir werden Kinderarbeit in unserer Lieferkette bis 2025 beseitigen», sagt etwa Christiaan Prins von Barry Callebaut im Gespräch. Andere Branchengrössen wie Olam, Cargill oder Nestlé versprechen Ähnliches: In fünf Jahren sollen für ihre Schokolade keine Kinder mehr arbeiten müssen.
Gleichermassen zuversichtlich gibt sich die ivoirische Regierung. Zum Gespräch bei der nationalen Kommission gegen Kinderarbeit in Abidjan erscheinen zwei hochrangige Beamte. Die Lösung des Problems habe für Präsident Alassane Ouattara höchste Priorität, versichern sie. In den letzten Jahren seien die Budgets der zuständigen Behörden deutlich erhöht, Abläufe verbessert, Kompetenzen erweitert, Gesetze angepasst worden. «Die Dinge werden sich nun Schritt für Schritt verbessern», heisst es. Voraussetzung sei aber, dass die Industrie am selben Strick ziehe.
Auch Kritiker attestieren den Behörden in Abidjan Fortschritte, was die Schaffung besserer Rahmenbedingungen anbelangt. Entscheidend aber ist die Umsetzung. Am Ende des Gesprächs überreichen die Regierungsvertreter eine Broschüre über ihre Erfolge. Achttausend Kinder habe man in fünf Jahren von der Geissel der Kinderarbeit befreit, steht darin. Das ist – selbst wohlwollend betrachtet – äusserst bescheiden.
Fehlt der politische Wille? «Vieles ist schlicht Fassade»
Die Diskrepanz zwischen Worten und Taten ist eklatant – bei der Regierung wie bei den Firmen. «Vieles ist Augenwischerei und Verzögerungstaktik», kommentiert ein ehemaliger Kakaohändler die Beteuerungen der Industrie. Zur Politik der Regierung sagt ein lokaler Journalist: «Zwischen Abidjan und den Orten, wo Massnahmen umzusetzen wären, liegen Welten. Vieles ist schlicht Fassade.»
Ungeachtet der Frage, wie «echt» der Wille dieser Akteure zu umfassenden Verbesserungen tatsächlich ist, geben auch Kritiker zu bedenken, dass es einfache Lösungen nicht gebe – schon gar nicht im Eiltempo. Kinderarbeit ist eine Folge einer ganzen Kaskade von Missständen, die wiederum selbst komplexe Ursachen haben. Dazu gehört die ausgeprägte Armut der Bauern, die auch durch Zertifizierungsprogramme kaum gelindert wird. Dazu gehört die Tatsache, dass die Unterrichtsqualität schlecht ist und es vielerorts zu wenig Schulen gibt (in ländlichen Gebieten besuchen dreissig Prozent der Kinder nicht einmal die Primarschule). Dazu gehören die verbreitete Korruption und eine schlechte Infrastruktur. Es mangelt an vielen grundlegenden staatlichen Dienstleistungen, und das fachliche Know-how fehlt oft bei den Bauern.
Eines immerhin scheint auf breiter Basis erkannt: dass einfache Symptombekämpfungsmassnahmen – eine Aufklärungskampagne hier, eine Kontrolle da – wenig bringen. «Mittlerweile ist den meisten klar, dass es umfassende Programme braucht, die an den Wurzeln des Problems ansetzen», sagt die Vertreterin einer Nichtregierungsorganisation (NGO) in Abidjan. Viele der neusten Strategien von Firmen, Regierung und NGO spiegeln nun die Notwendigkeit eines solchen «holistischen Ansatzes». Will heissen: Nur wenn es allen bessergeht, wird es auch den Kindern bessergehen.
Dass es bis zu dieser an sich naheliegenden Erkenntnis zwanzig Jahre gedauert hat, scheint selbst Betroffene im Rückblick zu erstaunen. «Es klingt seltsam, aber man hat lange schlicht nicht gründlich genug über das Problem nachgedacht», sagt eine Uno-Angestellte.
Ein anderes Verständnis von Kinderarbeit
Grundvoraussetzung für eine Lösung bleibt ohnehin, dass ein gemeinsames Problemverständnis vorhanden ist. Hier gibt es in Côte d’Ivoire noch erheblichen Nachholbedarf, gerade in den betroffenen Kakaoanbaugebieten. Dass Kinder auf den Plantagen oft während mehrerer Stunden schwere Lasten tragen – laut einer Nestlé-Untersuchung die häufigste Form von Kinderarbeit in dem Land –, erachten viele Bauern bis heute als unproblematisch.
Henri Kahon, der Kakaobauer, verteidigt die schwere Arbeit seiner Söhne mit einem Argument, das man oft hört im Anbaugebiet: «Ich habe das so gemacht, nun machen es meine Kinder so.» Ihm sei egal, was die Leute dazu sagten, fügt er hinzu. «Die Kinder können hier viel lernen.»
Teilweise führt diese Sichtweise gar dazu, dass in Abrede gestellt wird, dass das Problem überhaupt existiert. «Das gibt es nicht», hört man oft in Côte d’Ivoire – nicht nur auf den Kakaofeldern. Deutlich wird das etwa bei einer Strassenkontrolle, bei der sich ein Polizist minutenlang über westliche Journalisten echauffiert, die der Welt «falsche Geschichten» erzählten. «Geht auf die Felder, und schaut selbst: keine Kinderarbeit», wiederholt der Mann zig Mal. «Ihr schadet uns, wenn ihr das immer wieder behauptet.»
Artikel NZZ (9.6.2020)