Am 24. August 2019 kündigte der Schweizer Bundesrat Guy Parmelin der rechtsnationalen Schweizerischen Volkspartei (SVP) den Abschluss eines Freihandelsabkommens mit den Mercosur-Staaten an – just an jenem Tag, als die Empörung über die Brände im Amazonas-Regenwald und die brasilianische Bolsonaro-Regierung und hochkochte. So gab es öffentlich neben dem Lob seitens der bürgerlichen Neuen Zürcher Zeitung und der Unternehmerverbände vor allem viel Kritik und Widerstand gegen das Freihandelsabkommen.
MultiWatch Artikel erschienen in ila 429 vom Oktober 2019
Die Schweiz exportiert heute Güter für etwa 3,6 Milliarden Franken in den Mercosur-Raum, was nur gerade 1.5% ihres Exportvolumens ausmacht. Darum macht die Exportindustrie schon lange Druck auf die Regierung, mit einem Freihandelsabkommen diesen großen Markt für Schweizer Firmen zu öffnen. Seit 1995 finden entsprechende Gespräche statt, sie verliefen aber alle ohne Resultate. Erst der Rechtsrutsch in Argentinien und Brasilien deblockierte die Verhandlungen. Die neuen Regierungen Brasiliens und Argentiniens warben um internationale Investitionen und waren konzessionsbereiter als ihre Vorgängerinnen. Die Verhandlungen fanden zwischen der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) und Mercosur statt. Zur EFTA gehören Island, Lichtenstein, Norwegen und die Schweiz, die die Verhandlungen führte. In diesem Licht ist auch zu sehen, dass sich Bolsonaro im Januar 2019 im Rahmen des World Economic Forum in Davos mit zwei Schweizer Bundesräten getroffen hat. Nach dem Abschluss des Abkommens wird der Text nun rechtlich geprüft und soll noch in diesem Jahr unterzeichnet werden. Es ist geplant, dass das Schweizer Parlament das Abkommen spätestens 2021 ratifiziert. Möglicherweise kommt aber ein Referendum dagegen zustande und dann gäbe es eine Volksabstimmung über das Freihandelsabkommen.
Noch wurde der Vertragstext nicht publiziert. Wie beim Freihandelsabkommen zwischen Mercosur und der EU öffnet auch dasjenige mit EFTA den Markt für Fleisch- und Sojaimporte aus den Mercosur-Staaten mit den katastrophalen Auswirkungen vor Ort, die in diesem Heft anderswo diskutiert werden. Auf der Exportseite würden gemäss offiziellen Angaben 95% der Schweizer Ausfuhren in den Mercosur-Raum zollbefreit. Das Abkommen verhindert vor allem, dass die Schweizer Exportfirmen nach dem Abschluss des Freihandelsabkommens zwischen EU und Mercosur gegenüber Unternehmen aus dem EU-Raum benachteiligt würden.
Pharmakonzerne, Agrarriesen und geistige Eigentumsrechte
Die Schweiz hat eine ausgeprägt exportorientierte Wirtschaft und setzt schon seit dem 19. Jahrhundert auf Handel, um im imperialistischen Weltsystem Profit zu machen. Heute machen die chemisch-pharmazeutischen Produkte 45% der Schweizer Exporte aus und haben damit die Maschinenindustrie mit 14% und die Uhrenindustrie mit 9% weit hinter sich gelassen. Es ist daher vor allem die Pharmaindustrie mit den Branchenriesen Novartis und Roche, die stark vom Freihandelsabkommen profitiert. Ausserdem enthält das Abkommen Bestimmungen zu geistigen Eigentumsrechten und soll einen stärkeren Patentschutz bringen. Dies hilft den langjährigen Bestrebungen der Pharmakonzerne, den monopolistischen Patentschutz für Medikamente gegenüber Ländern des Globalen Südens durchzusetzen, so Medikamente zu verteuern und den Vertrieb von Generika zu erschweren.
Wozu das führen kann, zeigen die Erfahrungen im Mercosur-Nachbarland Kolumbien. Kurz nachdem das Freihandels- und Investitionsschutzabkommen zwischen EFTA und Kolumbien 2011 in Kraft trat, liess Novartis das Krebsmedikament Glivec in Kolumbien patentieren. 2014 beantragten verschiedene kolumbianische Organisationen aus dem Gesundheitsbereich beim Gesundheitsministerium, den entsprechenden Wirkstoff als öffentliches Interesse zu erklären und eine Zwangslizenz zu erteilen – und damit den Preis zu senken. Die NGO Public Eye hat den Fall eng verfolgt (Quelle ist Public Eye Magazin (2018), «Powerplay gegen den Präzedenzfall», Magazin Nr 12, S. 26) und aufgezeigt, wie das Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft intervenierte. Obwohl Zwangslizenzen eine erlaubte Massnahme sind, schrieb das Seco in einem Brief an eine Beraterin des kolumbianischen Gesundheitsministeriums, eine solche Zwangslizenz käme einer «Enteignung der Patentinhaberin» gleich.
Novartis drohte dann, eine Zwangslizenz würde das Investitionsschutzabkommen verletzen und der Konzern zöge eine Schiedsgerichtsklage in Betracht. Daneben gab es beachtliche Versuche von Seiten der US-Regierung, Druck auf die kolumbianische Regierung auszuüben. Letztlich hat der kolumbianische Gesundheitsminister Glivec zwar als von öffentlichem Interesse eingestuft, aber statt einer Zwangslizenz bloss eine Preisreduktion verfügt. Auch dagegen hat Novartis geklagt. Mehr als um die tatsächlichen Gewinneinbussen scheint es Novartis hier darum zu gehen, einen Präzedenzfall zu vermeiden. Dieser Fall zeigt, welche Folgen solche Abkommen auf den Preis von Medikamenten und somit den Zugang zu Gesundheit haben. Zudem zeigt er auch einen weiteren wichtigen Aspekt des Abkommens für die Schweiz auf. Das Land verfügt über ein sehr dichtes Netz von Investitionsschutzabkommen und schützt so den hohen Kapitalexport der hiesigen Unternehmen. Bisher verfügt die Schweiz über solche Verträge mit den Mercosur-Ländern Argentinien, Paraguay und Uruguay, nicht aber mit Brasilien.
Zur chemisch-pharmazeutischen Industrie gehören neben den Pharma- auch die Agrarkonzerne wie Syngenta. Sie ist Weltmarktführerin in Sachen Pestiziden und hat ihren Sitz in der Schweiz. Sowohl Brasilien wie auch Argentinien gehören zu Syngentas wichtigsten Absatzmärkten. Immer wieder wurde die Vergiftung der Bevölkerung mit Pestiziden dokumentiert. Seit der Machtübernahme von Michel Temer 2016 und später Bolsonaro, beide mit engen Verbindungen zum Agrobusiness, wurden in Brasilien 1270 Pestizide bewilligt – mehr als doppelt so viele wie in den vorhergehenden vier Jahren (siehe die Homepage isaaa.org). 193 davon enthielten Substanzen, die in Europa verboten sind, darunter auch solche von Syngenta. Wenn man bedenkt, dass allein Brasiliens Pestizidverbrauch fast einem Fünftel der weltweit eingesetzten Pestizide entspricht, kann man sich unschwer vorstellen, welche Bedeutung die Region für Syngenta hat.
Schweizer Bäuerinnen und Bauern unter Druck
Die Schweiz mit ihrer kleinräumig strukturierten Landwirtschaft hat diese lange mit Zöllen vor billigen Importprodukten geschützt. Gleichzeitig forderte sie aber im Rahmen der WTO-Verhandlungen aggressiv Zollabbau für die Industriegüter der Exportindustrie und für Dienstleistungen. Diese Position kam in den WTO-Verhandlungen aber wie jene der USA und der EU zunehmend unter Druck. USA und EU mutierten vom Ankläger in Sachen Freihandel zum Angeklagten. Das drohte auch der Schweiz und so verschob sie die Unterstützung für den Agrarsektor immer mehr von Subventionen zu Direktzahlungen, welche aber immer noch zu wenig an ökologische oder soziale Bedingungen geknüpft sind.
Im Moment steht die Schweizer Landwirtschaft massiv und berechtigt unter Druck, den Pestizideinsatz zu reduzieren, nachdem aufgedeckt wurde, dass im Schweizer Mittelland das Trinkwasser zu einem beträchtlichen Teil mit Pestizidrückständen kontaminiert ist. Wegen des grossen Anteils von Rebbergen und Baumkulturen ist die Schweizer Landwirtschaft Europameisterin im Einsatz von Pestiziden pro Flächeneinheit. Für 2020 stehen zwei Volksabstimmungen zu diesem Thema an. Die eine will Direktzahlungen an den Verzicht auf Pestizide und prophylaktische Antibiotika binden, die andere schlägt ein generelles Verbot von synthetischen Pestiziden bei einheimischer Produktion sowie Importen vor. Der Druck auf die Bauern und Bäuerinnen steigt also, immer ökologischer zu produzieren.
Gleichzeitig werden sie aber dank Freihandelsabkommen wie demjenigen mit Mercosur mit Konkurrenzprodukten konfrontiert, die deutlich tiefere Standards zulassen und somit billiger sind. Die Schweiz musste im Agrarbereich Konzessionen machen, aber welche genau ist nicht bekannt. Bei Rindfleisch aus Argentinien und Brasilien gelten erstmals bilateral höhere Kontingente als die WTO vorschreibt. So werden die Produzentenpreise bei Rindfleisch, aber auch bei Geflügel, bei Speiseölen, Zucker, Futtergetreide und gewissen Früchten wie Beeren oder Naschgemüsen unter Druck geraten. Beim Export von Agrarprodukten aus der Schweiz geht es dagegen vor allem um Kaffee, Schokolade, Käse, Energy Drinks und Tabakprodukte.
Für den Schweizer Lebensmittelmarkt sind die Mercosur-Staaten sehr relevant, insbesondere beim Fleisch. Bei dem importierten Geflügel etwa macht Brasilien 37% aus, beim Rindfleisch 15%. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich diese Anteile mit dem Abkommen erhöhen werden. Ob die Preise sinken, ist jedoch weniger klar, unter anderem weil der Schweizer Detailhandel von den zwei grossen Konzernen Migros und Coop beherrscht wird und die Konkurrenz daher beschränkt. Es ist jedoch sowieso fraglich, wie relevant allfällige Preissenkungen für viele Schweizer Haushalte sind. Die Einwohner*innen der Schweiz geben im Verhältnis zum Einkommen sehr wenig für Lebensmittel aus. Mit knapp über 6% liegen sie international am untersten Ende der Skala. Für eine grosse Mehrheit ist also der Lebensmitteilpreis kaum mehr entscheidend für das monatliche Budget, während steigende Miet- und Gesundheitskosten viel stärker ins Gewicht fallen. Vor diesem Hintergrund finden Diskussionen um biologisch produzierte und fair gehandelte Produkte eine gute Resonanz. Den Themen Pestizidrückstände, Gentechnik oder Tierausbeutung gerade bei importierten Produkten schenkt eine wachsende Minderheit viel Beachtung, auch Konsumentenschutzorganisationen und beispielsweise die Grünen oder die Sozialdemokratische Partei.
Der Bauernverband hat in der Schweiz einen überdurchschnittlich hohen politischen Einfluss und verfügt durchaus über die Macht, politische Prozesse zu blockieren, obwohl nur noch knapp über 3% der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig sind. Der Verband wird beherrscht von der rechtsnationalen und christlich-konservativen Parteien SVP und CVP. Der Schweizer Bauernverband betont immer wieder, nicht grundsätzlich gegen Freihandelsabkommen zu sein, sondern nur versuche, die Interessen der Schweizer Landwirtschaft bei diesen durchzusetzen. Der dabei entstehende Konflikt mit der Export- und Importindustrie, zeigte sich, als der damalige Wirtschaftsminister Bundesrat Schneider-Ammann 2018 die Spitze des Bauernverbandes zu einer gemeinsamen Reise in die Mercosur-Staaten einlud und der Präsident des Bauernverbandes ablehnte. Aber in der Schweiz gibt es gerade von bäuerlicher Seite immer stärker auch andere Stimmen wie etwa die bäuerliche Gewerkschaft uniterre, die eine grundsätzlichere Kritik der Verhältnisse ausspricht und sich für Ernährungssouveränität einsetzt.
Die Schweizer Bundesräte Ueli Maurer und Guy Parmelin mit Bolsonaro am World Economic Forum im Januar 2019
Gemeinsamer Widerstand: die Mercosur-Koalition
Bezüglich Freihandelsabkommen ist es in der Schweiz in den letzten Jahren gelungen, durch eine Koalitionen Diskussionen anzustoßen und erfolgreich Lobbyarbeit zu betreiben. Die beiden erwähnten bäuerlichen Organisationen, entwicklungspolitische und Umweltschutz- sowie Konsumentenschutzorganisationen haben die sogenannte informelle Palmölallianz ins Leben gerufen. Eine Koalition, die es seit dem Widerstand gegen den WTO-Beitritt in den 1990er Jahren, gab es solche Koalitionen nicht mehr gab. Begonnen hat es beim inzwischen abgeschlossenen Freihandelsabkommen mit Indonesien, bei dem das Palmöl eine wichtige Rolle spielte. Einerseits ist Palmöl wie auch Soja ein Produkt, für dessen Anbau Regenwald abgeholzt, Menschen vertrieben und Arbeiterinnen und Arbeiter und prekärsten Bedingungen arbeiten. Andererseits stellt importiertes Palmöl eine Konkurrenz dar für einheimische Pflanzenöle.
Gemeinsam erreichten sie, dass ein einzelnes Produkt (Palmöl) angesprochen und mit spezifischen Nachhaltigkeitsbestimmungen versehen wird. Was diese Bestimmungen genau beinhalten und wie sie sanktioniert werden, ist noch nicht bekannt. Ausserdem gab es Kontingente für Palmöl und es wurde nicht vollständig zollbefreit. Beim Abkommen mit Malaysia, das bald ansteht, wird die Koalition weiterarbeiten. Es ist ein Erfolg, aber es stellt die Freihandelsideologie kaum in Frage. Er läuft sogar Gefahr, deren Argumentation zu legitimieren, durch Freihandelsabkommen und entsprechende Nachhaltigkeitsbestimmungen die Verhältnisse sogar verbessert werden könnten.
Aufbauend auf dieser Zusammenarbeit wurde die Mercosur-Koalition gegründet, der heute der Bauernverband, die Bauerngewerkschaft Uniterre, zwei Konsument*innenverbände, der Verein Schweizer Tierschutz sowie fünf entwicklungspolitische Organisationen angehören. Die Koalition hat ein umfassendes Argumentarium zum Mercosur-Abkommen publiziert, das die Argumente der Bauern, entwicklungspolitische und ökologische Kriterien verbindet (siehe Positionspapier von SWISSAID). Sie verlangt vom Bundesrat, ebenfalls konkrete und verbindliche Nachhaltigkeitskriterien im Vertrag zu verankern, beispielsweise zu Soja. Dies ist nicht gelungen, sondern das Abkommen beinhaltet nur allgemeine Nachhaltigkeitsbestimmungen. Die Koalition hat nun angekündigt, dass sie das Abkommen im Detail prüfen und sicherstellen wollen, dass die Aspekte der Nachhaltigkeit im Vertrag verankert sind.
Kommt es zu einer Volksabstimmung?
Wie gesagt ist es möglich, das Abkommen durch ein Referendum und eine Volksabstimmung zu verhindern. Die Grüne Partei beschloss einstimmig, ein Referendum gegen das Abkommen zu ergreifen, falls dieses keinen verbindlichen Ansatz zum Schutz von Klima, Umwelt und Menschenrechten enthalten sollte, und der Präsident der Sozialdemokratischen Partei will ein solches Referendum unterstützen. Dass das Referendum zustande käme wäre damit wahrscheinlich, denn dafür braucht es bloss 50’000 Unterschriften. Eine Online-Petition unter dem Titel «Kein Schweizer Freihandelsabkommen mit Amazonas-Zerstörer Bolsonaro», die kurz nach dem Abschluss des Abkommens zwischen der EFTA und Mercosur lanciert wurde, konnte innerhalb von vier Tagen 65’000 Unterschriften sammeln.
Das sind kleine Schritte. Auch wenn mehrheitlich eine grundsätzlichere Kritik am Welthandel fehlt, ermöglichen sie es in der Schweiz nach Jahren der Freihandelspolitik ohne öffentliche Debatte, wieder politisch über Freihandelsabkommen zu diskutieren.