Im Mai 2013 wird eine Schule in der brasilianischen Kleinstadt Rio Verde von einem Flugzeug mit Syngenta-Pestizid versprüht. Rund 100 Personen, die Mehrheit Kinder und Jugendliche, waren zum Zeitpunkt des Überflugs in der Schule und viele von ihnen entwickelten kurz danach die typischen Symptome einer Pestizidvergiftung.
Die brasilianische Kleinstadt Rio Verde im Staat Goiás liegt mitten zwischen riesigen Mais- und Soja-Plantagen. Neben diesen Monokulturen liegt auch das Schulhaus São José do Pontal, in dem etwa 250 Kinder zur Schule gehen. Es befindet sich in der Siedlung Pontal DOS Buritis, etwa 130 km von Rio Verde entfernt.
Im Mai 2013 wird diese Schule in Brasilien berühmt, da ein Schüler auf dem Sportplatz mit seinem Handy filmen konnte, wie ein Flugzeug Pestizide über dem Schulhaus versprühte. Der Vorfall in Rio Verde ist nur einer von vielen Pestizid-Vergiftungsfällen in Brasilien. Brasilien ist weltweit die grösste Pestizid-Anwenderin und Marktführerin ist Syngenta.
Gesundheitliche Folgen durch das Versprühen von Pestizide über dem Schulhaus
Rund 100 Personen, die Mehrheit Kinder und Jugendliche, waren zum Zeitpunkt des Überflugs in der Schule. Kurz danach entwickelten viele von ihnen die typischen Symptome einer Pestizidvergiftung, wie Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Hautreizungen, Schwindel, Atemnot und Ohnmacht. Die lokale Feuerwehr und die Sanität sperrten das Schulhaus ab und behandelten die Opfer medikamentös vor Ort.
Nach Angaben der Feuerwehr waren 37 Menschen berauscht, davon 29 Kinder im Alter zwischen 6 und 14 Jahren, die beim Spielen auf dem Sportplatz mit Pestiziden besprüht wurden. Nach Angaben des mobilen Notfall-Dienstes wurden 42 Schüler*innen in die Krankenhäuser in Rio Verde eingeliefert, 29 davon mussten im Spital bleiben. Auch der Direktor und ein Schullehrer, die versucht hatten, die Schüler*innen vom Schulhof zu evakuieren, mussten betreut werden. Drei Opfer mussten länger im Stadtkrankenhaus in Rio Verde behandelt werden. Einige der Kinder leiden bis heute unter schweren Kopfschmerzen, Bauchschmerzen und Atemnot. Andere entwickelten zudem ein posttraumatisches Syndrom.
Einsatz von Syngenta-Pestizid
Untersuchungen der Lokalpolizei ergaben, dass das Flugzeug der Firma Aviation Agrícola LTDA weniger als 15 Meter von der Schule entfernt, das Insektizid Engeo Pleno der Firma Syngenta versprüht hatte. Der Pilot, ein Angestellter und der Besitzer des Luftfahrtunternehmens waren bei der Polizeistation Rio Verde inhaftiert, wurden aber wenige Tage danach durch eine Entscheidung des Gerichts wieder auf freien Fuss gesetzt. Sie zahlten eine Kaution in der Höhe von R $25000. Der Unternehmer Rui Alberto Textor erklärte, der Pilot habe nicht gesehen, dass es sich beim Gebäude um ein Schulhaus gehandelt habe.
Verbot der Luftanwendung von Pestiziden in Maisfeldern
Aviation Agricola hätte aber auch ausserhalb der Schulzone kein Engeo Pleno versprühen dürfen. Das brasilianische Institut für Umwelt (IBAMA) hatte bereits seit Juli 2012 die Luftanwendung von Pestiziden in Maisfeldern verboten. Untersuchungen eines Sonderausschusses über den Einsatz von Pestiziden hatten ergeben, dass mindestens 30% des von Flugzeugen abgeworfenen Pestizide ihr Ziel nicht erreichen und statt dessen in den Böden, Flüssen und Lebewesen der Umgebung abgelagert werden.
Syngentas Engeo Pleno darf wegen seiner toxischen Eigenschaften überhaupt nicht mit Sprayflugzeugen verteilt werden. Der Fall hatte juristische Konsequenzen für die Fluggesellschaft Aviation Agricola und für Syngenta.
Öffentliche Zivilklage gegen Syngenta
Die Staatsanwaltschaft von Goiás eröffnete 2016 eine öffentliche Zivilklage aufgrund “immateriellen Schadens an der Gemeinschaft” gegen Syngenta und Aerotex und forderte von diesen eine Wiedergutmachung in der Höhe von R $10 Millionen (CHF 2,6 Millionen).
Syngenta argumentierte, sie sei nicht verpflichtet, auf der Verpackung zu erwähnen, dass der Einsatz von Engeo Pleno mit Flugzeugen nicht erlaubt sei. Die Schuld am Vorfall liege alleine bei der Fluggesellschaft Aviation Agricola. Sie würden den Unfall bedauern und täten alles, um die Ausbildung der Anwender*innen zu verbessern.
Verurteilung von Syngenta zur Wiedergutmachung
Am 14. März 2018 wurden Syngenta zu einer viel kleineren – als der geforderten – Wiedergutmachung in der Höhe von R 150.000 (CHF 40’000.-) verurteilt. Die Verurteilung von Syngenta geht auf die Missachtung der Informationspflicht zurück: Syngenta hat nicht über das Verbot der Luftanwendung von Pestiziden in Maisfeldern informiert. Dabei handle es sich um eine Missachtung der Sorgfaltspflicht.
Der Richter argumentierte zudem, Syngenta sei zwar weniger schuldig als Aviation Agricola. Im Unterschied zu Aviation Agricola habe Syngenta aber vor Ort nichts unternommen, um den Opfern schnell zu helfen.
Einsatz von einem Insektizid mit Syngentas Neonicotinoid
Bei Engeo Pleno handelt es sich um ein Insektizid mit dem Wirkstoff Thiametoxam, Syngentas Neonicotinoid, das mitverantwortlich für das Bienensterben ist. Am 27. April 2018 beschloss die Europäische Union, den Einsatz der drei meistverbreiteten Neonicotinoide Imidacloprid, Clothianidin und Thiamethoxam (Syngenta), auf offenen Feldern zu untersagen. Sie reagierte damit auf die Erkenntnisse über deren Mitverantwortung für das dramatische Bienensterben. Die Schweiz vollzieht diesen Entscheid der EU nach. Der Entscheid wurde von ökologischen Bewegungen auf der ganzen Welt als ein Durchbruch begrüsst.
Nach diesem EU Entscheid von April 2018 bezüglich Neonicotinoiden müsste gefordert werden, dass das in der EU und der Schweiz nicht mehr zugelassene Pestizid nicht nach Brasilien oder sonstwo verkauft werden darf.
Umweltbewegungen fordern schon seit längerem weltweit ein Verbot der Ausbringung von Pestiziden mit Sprayflugzeugen.
Reportage “Aus heiterem Himmel”
In einer Public Eye Reportage kommen die Betroffenen des fatalen Vorfalls zu Wort. Zudem beschreibt die Reportage, wie Syngenta das angewendete Pestizid bewirbt:
In Brasilien bewirbt der Agrarriese sein Produkt in Fernsehspots als hochmodernes, effizientes und sicheres Insektizid für «gesunde Äcker». Der «neue Stern» Syngentas sei erschienen, heisst es im Spot, während eine glückliche Bauernfamilie zu einer brasilianischen Version des Beatles-Klassikers «Here comes the Sun» den Blick über die Monokulturen schweifen lässt, an deren fernem Horizont die Sonne gen Himmel steigt.
Zudem weist die Reportage darauf hin, dass das Pestizid Engeo Pleno neben Thiamethoxam auch Lambda-Cyhalothrin enthält. Gemäss EU wirkt Lambda-Cyhalothrin erwiesenermassen hormonaktiv. Es beeinträchtigt dadurch potenziell die Fruchtbarkeit, den Stoffwechsel und neurologische Funktionen. Laut Syngentas eigenen Angaben kann Lambda-Cyhalothrin akut Atemwege, Haut und Augen irritieren und bei Einnahme Lungenentzündungen, Schwindel und Erbrechen hervorrufen. Die EU geht deutlich weiter und warnt, das Einatmen des Stoffes könne tödlich sein. Beide Wirkstoffe sind vom internationalen Pesticide Action Network (PAN) auf die schwarze Liste hochgefährlicher Pestizide gesetzt worden.
Agrarindustrie mit Monokulturen
In der selben Reportage stellt Public Eye fest, dass in Region von Rio Verde sich Monokulturen breit machen, “soweit das Auge reicht”. Rio Verde sei das Sinnbild für das agroindustrielle Entwicklungsmodell der zentralen und westlichen Bundesstaaten Brasiliens. Dank staatlicher Fördermittel hat sich die landwirtschaftliche Fläche der Region in den letzten Jahrzehnten rasant ausgedehnt. Als Folge davon ist der Bundesstaat mittlerweile auch in Bezug auf den Einsatz von Agrochemie nationale Spitze:
Mehr als 42 Tausend Tonnen Pestizide werden jährlich ausgebracht – das sind 6,3 Kilo pro Bewohnerin und Bewohner.