Novartis hat mit Gilenya, einem Medikament gegen Multiple Sklerose, lange Zeit Milliarden verdient. Nun wehrt sich Novartis mit allen Mitteln dagegen, dass das Patent auf dem Medikament abläuft und damit günstigere Nachahmerprodukte (so genannte Generika) auf den Markt gebracht werden.
Wie so oft nimmt die Entwicklung eines Medikaments ihren Anfang an einer öffentlichen Einrichtung: Ein japanisches Forscher:innen-Team entdeckte Anfang der 1990er-Jahre an der Universität Kyōto die immunsuppressive Wirkung von Myriocin (Verminderung der Funktion des Immunsystems). Der Wirkstoff Myriocin, welcher aus dem Pilz Isaria sinclairii stammt, wurde chemisch zu FTY720 (Fingolimod) verändert und so eine bessere Verträglichkeit erzielt. 1997 lizenzierte das japanische Unternehmen Yoshitomi Fingolimod an Novartis aus.
Die Erstzulassungen des Wirkstoffs gegen die Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose erfolgten 2010 in Russland und den USA. 2011 wurde Fingolimod auch in der Schweiz und in der EU zugelassen. Bei Novartis läuft das Medikament unter dem Namen Gilenya.
Novartis wehrt sich mit einem Kniff gegen Ablauf des Patents
Gilenya ist eines der grössten Erfolgsprodukte von Novartis: Der Basler Pharmakonzern erzielte im Jahr 2018 mit einem Umsatz von 3,3 Milliarden US Dollar einen Spitzenwert (siehe NZZ, 10.9.2020). Es überrascht deshalb kaum, dass Novartis die exklusiven Verkaufsrechte für dieses Medikament weiterhin für sich beanspruchen will, obwohl das Patent für den Wirkstoff im Jahr 2019 abgelaufen war. Novartis greift dazu zu einem in der Pharmabranche beliebten Kniff: Der Basler Konzern beharrt auf dem patentrechtlichen Schutz der Schemata bei der Dosierung. Verschiedene Generika-Unternehmen legten jedoch Einspruch gegen diese Patentverlängerung ein. Vor Gericht konnte Novartis zunächst Erfolge verbuchen: So erklärte bereits im Jahr 2019 ein US-Bundesgericht, dass vorerst keine Nachahmerversionen auf den Markt gebracht werden dürfen – zumindest bis zur Entscheidung im laufenden Patentstreit (siehe Handelszeitung, 25.6.2019). Novartis nutzte die Gelegenheit, um mit verschiedenen Generikaunternehmen einen Vergleich abzuschliessen, welcher den Unternehmen noch vor Ende des Patents des Dosierungsschemas im Jahr 2027 erlaubte, Nachahmerprodukte zu lancieren. Nur das Generikaunternehmen HEC Pharma hielt an ihrem abgekürzten neuen Arzneimittelantrag fest, welcher das Patent anfocht. Im August 2020 hatte das US-Bundesbezirksgericht für den Bezirk Delaware ein für Novartis positives Urteil im Gilenya-Patentstreit gefällt und seinerzeit eine dauerhafte einstweilige Verfügung gegen HEC Pharma bis zum Ablauf des Patents im Dezember 2027 erlassen (siehe FuW, 4.1.2022). Anfang 2022 bestätigte das US-Berufungsgericht US Court of Appeals for the Federal Circuit (CAFC) die Gültigkeit des US-Patents für ein Dosierungsschema für Gilenya und schmetterte die Beschwerde von HEC Pharma ab. Doch Mitte Juni 2022 kam die Wende: Das CAFC entschied gegen Novartis und stiess damit sein eigenes früheres Urteil um. Das Gericht in Delaware habe seinerzeit fehlerhafte Feststellungen getroffen, stellten die Appelationsrichter nun fest (siehe Nau.ch, 22.6.2022). Die dauerhafte einstweilige Verfügung wurde aufgehoben und der Weg nun frei für günstigere Nachahmerprodukte. Der Basler Pharmakonzern will jedoch nicht klein beigeben. So heisst es in einer Erklärung: «Novartis wird die Gültigkeit des Gilenya-Patents weiterhin energisch verteidigen und plant, beim Obersten Gerichtshof der USA eine Petition zur Überprüfung der Entscheidung des Federal Circuit einzureichen» (siehe finanzen.ch, 14.10.2022).
Lukratives Geschäft mit den Medikamenten gegen Multiple Sklerose
Der Streit um das Medikament gegen Multiple Sklerose kommt nicht von ungefähr: Die Pharmakonzerne buhlen regelrecht um die Patient:innengruppe mit der Nervenerkrankung Multiple Sklerose (siehe NZZ, 10.9.2020). Ende 2020 gab es 14 verschiedene zugelassene Therapien, bis 2028 könnten ein knappes Dutzend weiterer Präparate gegen Multiple Sklerose lanciert werden. Insgesamt haben die Marktforscher:innen fast 50 neue Wirkstoffe gezählt, die sich in der klinischen Entwicklung befinden – die Hälfte davon in einem späten Stadium. Dem gegenüber stehen ca. 2,3 Millionen Patient:innen, die weltweit an der Autoimmunkrankheit leiden. Im Fall von Krebs oder Diabetes gibt es weltweit deutlich mehr Betroffene. Dennoch fällt das Geschäft mit Medikamenten gegen die Autoimmunkrankheit für die Pharmaindustrie ins Gewicht. Mit einem Gesamtumsatz von 22,7 Milliarden US Dollar bildete es im Jahr 2019 das zehntgrösste Therapiegebiet der Branche. Das grosse Angebot an Therapien erklärt sich einerseits dadurch, dass schwere Behinderungen trotz fortschreitender Erkrankung viel seltener als früher auftreten, andererseits die Erkrankung nach wie vor nicht vollständig heilbar ist. Dadurch werden die Therapien über einen langen Zeitraum benötigt und die Pharmakonzerne können trotz vergleichsweise weniger Betroffenen maximalen Profit aus ihren Medikamenten schlagen.