Anfang 2002 kündigt Nestlé in der Fabrik CICOLAC in Valledupar (Kolumbien) den Tarifvertrag mit der Gewerkschaft Sinaltrainal. Diese kontert am 28. Februar mit einem Forderungskatalog. Die Verhandlungen scheitern, worauf Sinaltrainal am 12. April 2002 den Streik beschliesst. Am 11. Oktober 2002 erklärt das Arbeitsministerium diesen Streik als «teilweise illegal» und gibt dem Konzern grünes Licht für die Entlassung der am Streik beteiligten ArbeiterInnen. Am 22. Oktober entlässt Nestlé neun Sinaltrainal-Gewerkschafter, darunter Luciano Romero, der 2005 von Paramilitärs ermordet wird.
Nestlé in Kolumbien
Im Jahre 1938 begann Nestlé, Produkte aus den USA und Europa in Kolumbien zu importieren. Die heute wichtigsten als Aktiengesellschaften organisierten Unternehmen sind Nestlé de Colombia mit Standort in Bugalagrande (Kaffee, Milch- und Getreideprodukte für Kinder, Schokoladengetränke, Milchpulver, Suppen und Fleischbrühen) und Florencia (vorkondensierte Milch), das Joint Venture mit der neuseeländischen Firma Fonterra Dairy Partners America DPA (ehemals Cicolac) in Valledupar (Milchpulver und milchhaltige Produkte), La Rosa in Dosquebradas (Kekse und Süsswaren) und Purina Petcar in Mosquera (Tierfutter).
Nestlé verfolgt in Kolumbien kompromisslos das Ziel der Gewinnmaximierung, indem der Konzern Unternehmen gründet, aufkauft, fusioniert, wieder schliesst oder nicht rentable Abteilungen auslagert. Dabei profitiert der Konzern von einer komfortablen lokalen Gesetzgebung und Steuersituation, wodurch der Grossteil des Gewinns in die Schweiz zurück fliesst. Der in Kolumbien herrschende jahrzehntelange bewaffnete Konflikt zwischen Guerilla, paramilitärischen Organisationen und Militär wirkt sich zusätzlich positiv auf die Gewinnrate aus. Ohne Zweifel kommt es der Firma zu Gute, dass in Kolumbien Menschen- und Arbeitsrechtsverletzungen zu über 95% in Straflosigkeit verbleiben. Nestlé hat sich nie öffentlich von den Bedrohungen, Entführungen, Attentaten und Ermordungen von Nestlé-Arbeiter*innen und Gewerkschafter*innen in Kolumbien distanziert.
Die Lebensmittelgewerkschaft SINALTRAINAL (Sindicato Nacional de la Industria Alimenticia) organisiert den grösste Anteil an Nestlé-Arbeiter*innen. Seit ihrer Gründung im Jahre 1982 hat die Gewerkschaft sieben Todesopfer zu beklagen, davon fünf während und zwei nach der Anstellung bei Nestlé. Das prominenteste Opfer ist Luciano Romero, ehemaliger Angestellter bei Cicolac (Valledupar), einer der wenigen Todesfälle, bei denen es in Kolumbien zu einem Gerichtsverfahren gekommen ist und die direkt Verantwortlichen verurteilt wurden. Die prekäre Sicherheitssituation der Gewerkschaftsmitglieder, aber auch Vorfälle mangelnder Produktqualität und von Umweltverschmutzung haben dazu geführt, dass im Jahre 2005 MultiWatch gegründet und in Bern eine öffentliche Anhörung zu Nestlé in Kolumbien und ein internationales Forum durchgeführt wurde.
Anfang 2002 sind bei CICOLAC 192 Arbeiter*innen fest angestellt. Dazu kommen je nach Saison zwischen 70 und 300 Temporärarbeiter*innen. Die Arbeiter*innen sind privilegiert, weil sie einen festen Arbeitsplatz haben, rund das Dreifache der landesüblichen Löhne verdienen und zusätzliche Sozialleistungen bekommen. Anfang 2002 kündigt Nestlé diesen Tarifvertrag. Am 28. Februar kontert die Gewerkschaft Sinaltrainal mit einem Forderungskatalog. Die Verhandlungen scheitern, worauf Sinaltrainal am 12. April 2002 den Streik beschliesst. Am 27. April wird der Streikaufruf aufgrund von Todesdrohungen von Paramilitärs zurückgezogen. Sinaltrainal beschränkt sich auf Protestkundgebungen vor dem Werksgelände.
Bei einer dieser Protestkundgebungen am 12. Juli 2002 ruft der Personalchef von CICOLAC das Arbeitsministerium wegen einem angeblich illegalen Streik zu Hilfe. Am 11. Oktober 2002 erlässt das Ministerium einen Beschluss, in dem für den 12. Juli ein «teilweiser illegaler Streik» bei CICOLAC konstatiert wird. Das Ministerium stellt es der Firma frei, «alle Arbeiter zu entlassen, die sich nach dem Bekanntwerden seiner Illegalität weiterhin an dem Streik beteiligen». Nestlé nimmt diesen Beschluss zum Anlass, am 22. Oktober neun Sinaltrainal-Gewerkschafter zu entlassen. Sechs der Entlassenen gehörten dem örtlichen Vorstand an, darunter der für Menschenrechtsfragen zuständige Luciano Romero.
Der Konflikt in CICOLAC geht trotz dieser Entlassungen weiter. Das von Sinaltrainal angerufene Schiedsgericht entscheidet später zu Gunsten von Nestlé. Am 17. September 2003 lädt die kolumbianische Nestlé-Zentrale den neuen Sinaltrainal-Vorstand aus Valledupar zu einer Diskussion über den Schiedsspruch nach Bogotá ein. Währenddessen werden die CICOLAC-Arbeiter*innen in Bussen in zwei Hotels und den Country Club von Valledupar gefahren und dort von der Betriebsleitung mit ihrer Kündigung konfrontiert. 81 Arbeiter*innen mit Temporäranstellungen sind schon vorher entlassen worden. 191 der 192 Beschäftigten stimmen am selben Tag ihrer Entlassung und den damit verbundenen Abfindungen zu.
Am 1. Juli 2004 wird das Milchpulverwerk an Dairy Partners Americas (DPA) verkauft, ein Joint Venture zwischen dem neuseeländischen Milchkonzern Fonterra und Nestlé. In der Produktion ändert sich wenig, es werden weiterhin Nestlé-Produkte hergestellt und die Arbeiter*innen werden von Nestlé bezahlt. Das Werk in Valledupar ist keinen einzigen Tag stillgestanden. Nestlé hat schon Wochen vor dem 17. September 2003 angefangen, neue Arbeiter*innen einzustellen. Allerdings zu ganz anderen Bedingungen: Die Löhne von DPA liegen bei ungefähr einem Drittel derer von CICOLAC, zusätzliche Sozialleistungen gibt es nicht mehr. Sinaltrainal ist mit den Entlassungen vollständig aus der Fabrik verschwunden.
Am 11. September 2005 wird Luciano Romero von Paramilitärs umgebracht. Das Verbrechen ereignet sich just einen Monat vor seiner geplanten Teilnahme an der Anhörung zu Nestlé Kolumbien am 29.10.2005 in Bern, wo er als Zeuge im Arbeitskonflikt CICOLAC hätte aussagen sollen.