«Es ist eine Tragödie​, dass Nestlé die Bäche leer saugt»

Der Bund (15.10.) berichtet, dass der Nahrungsmittelkonzern Nestlé in Kalifornien wertvolle Quellen kontrolliert. Nun muss Nestlé beweisen, dass Nachhaltigkeit mehr als nur eine Worthülse ist.

Arrowhead, die San Bernardino Berge

Frische Kratzspuren an den Bäumen neben der Quellfassung zeigen, dass die Bären hier ihren Durst stillen. Sie sind nicht die Einzigen, die in diesem abgelegenen Teil des San Bernardino National Forest vom kostbaren Nass leben. Der Schweizer Nahrungsmittelkonzern Nestlé hat sich historische Wasserrechte gesichert und verteidigt sie mit allen Kräften gegen die Opposition von Umweltschützern. Die Rechte erlauben der Firma, das Quellwasser vor allen anderen Nutzern in der Region abzuzapfen und kommerziell zu verwenden. Die Marke «Arrowhead Springs» ist deshalb auch in Dürrezeiten äusserst wertvoll. Nestlé zahlt der nationalen Forstdirektion dafür lediglich eine Gebühr von 2050 Dollar pro Jahr, macht damit aber gemäss der Marktforschungsfirma IRI 209 Millionen Dollar Umsatz.

Doch in einer heftigen Auseinandersetzung mit Naturschutzorganisationen wird die Nutzung infrage gestellt. Zwar hat der Forest Service, der den unter Schutz stehenden Wald überwacht, die Bewilligung für den Betrieb der Quellfassungen und der Pipeline kürzlich verlängert. Dies aber nur für drei Jahre und verbunden mit strikten Auflagen.

Nestlé muss nachweisen, dass die Entnahme des Wassers das ökologische Gleichgewicht des Waldes nicht stört und das Wasservorkommen gesichert ist. Zweifel sind geblieben, obwohl die Bewilligung auf Zusehen hin erteilt wurde. «Erste Studien (von Nestlé) lassen vermuten, dass die Wasserentnahme den Abfluss des Strawberry Creek reduziert», erklärte der regionale Forest-Service-Ranger Joe Rechsteiner die Situation rund um die Nestlé-Quellen. Die Forstdirektion spricht von einem «beeinträchtigten» Zustand des Wasserbettes und verlangt weitere Abklärungen.

Wassernutzung angepasst

Diesen Auftrag wolle Nestlé sehr ernst nehmen, versichert Larry Lawrence, der regionale Wassermanager des Konzerns, bei einer Besichtigung der Quellen. «Wir sind zu Anpassungen des Nutzungsplans bereit. Es kann auch sein, dass wir in Dürrezeiten oder als Folge des Klimawandels künftig weniger Wasser entnehmen werden. Aber gleichzeitig bestehen wir auf unserem primären Nutzungsrecht. Wir dürfen als Erste Wasser abzapfen und so viel, wie wir wollen.»

Die Nestlé-Verantwortlichen geben sich selbstbewusst. Sie haben nach eigenen Angaben bereits 70 Umweltstudien durchgeführt und sind sich sicher, dass sie mit weiteren Untersuchungen nachweisen können, dass die Wasserentnahme das ökologische Gleichgewicht nicht stört.

Die Messungen der letzten Jahrzehnte deuteten trotz Regen und Klimaschwankungen auf einen relativ stabilen Wasserfluss in den Bächen, sagt Lawrence. «Wir passen unsere Nutzung den Wassermengen an.» 2016 zapfte Nestlé 32 Millionen Gallonen aus den Quellen ab, und letztes Jahr waren es 47 Millionen Gallonen. Eine Gallone entspricht knapp 3,8 Litern.

Für jeden Liter Flaschenwasser braucht der Konzern aber 1,3 Liter frisches Wasser. «Üblicherweise braucht es 3 Liter Wasser für die Produktion von 1 Liter Flaschenwasser», erklärt die für die Kommunikation zuständige Vizepräsidentin Tara Carraro. Drei Deziliter gehen beim Transport und der Reinigung der Anlagen verloren. Ein Liter Bier brauche 300 Liter Wasser und ein Liter Orangensaft 850 Liter.

Die Arrowheads-Abfüllanlage gilt als eine der effizientesten und wurde kürzlich mit dem Goldsiegel der Alliance for Water Stewardship ausgezeichnet, des ersten globalen Programms zum Schutz der lokalen Wasserquellen, dem sich auch Coca-Cola, der Bierkonzern Molson Coors und der Tabakmulti Philip Morris angeschlossen haben.

Präsident und treibende Kraft der Alliance for Water Stewardship ist Robert Kennedy Junior, Umweltaktivist aus der berühmten US-Politfamilie. Dies war für Megan Brousseau ausschlaggebend, überhaupt zuzuhören, als sie vor fünf Jahren einen Telefonanruf von Nestlé bekam und ihr ein Job angeboten wurde. «Ich war eine Nestlé-Aktivistin der ersten Stunde. Ich protestierte gegen die aggressive Vermarktung von Nestlé-Milchpulver. Der Konzern hatte aus meiner Sicht umweltmässig keinen guten Ruf.» Das hänge wohl auch damit zusammen, dass Nestlé als weltweit grösster Nahrungsmittelkonzern besonders exponiert sei. Brousseau war deshalb mehr als skeptisch, als Nestlé ihr 50 000 Dollar für ihre Arbeit als stellvertretende Direktorin der Inland Empire Water Keepers anbot.

Ihr Mann habe sie überzeugt, die Offerte anzunehmen, sagt sie. «50 000 Dollar sind viel Geld für uns. Einige Leute von der Umweltseite sehen mich als Verräterin, aber meine Erfahrung ist sehr positiv. Nestlé hat sich als gutes Mitglied unserer Gemeinde erwiesen.» Die Inland Empire Water Keepers hätten diesen Sommer für 3500 Kinder in der Region Sommerlager und Erziehungskurse organisiert, sagt sie, «bevor Nestlé uns finanzierte, waren es nur 300 Kinder».

Mit solchen Kampagnen und der Teilnahme an der Alliance for Water Stewardship hofft der Konzern, sein Umweltimage polieren zu können. Ein Image, das in den USA und Kanada immer wieder Protestaktionen besorgter Bürger provoziert. Dass der Konzern mehr als Coca-Cola oder Pepsi unter Beschuss ist, ist nicht erstaunlich. Pepsi (Aquafina) und Coca-Cola (Dasani), brauchen kein Quellwasser, sondern füllen gefiltertes Leitungswasser ab. Nestlé dagegen kontrolliert neben den Arrowhead Springs fünf weitere Quellgebiete in den USA, die historisch verbürgt sind. Die Rechte an den Arrowhead-Quellen hatte der Konzern mit der Übernahme von Perrier im Jahr 1990 erworben. Die Forstdirektion versäumte es aber bis ins Jahr 2015, die Lizenz zu erneuern. Nestlé unternahm nichts, um von sich aus die Lage zu klären.

Erst als die Lokalzeitung «Desert Sun» herausfand, dass 27 Jahre lang keine Inspektion stattgefunden hatte, erwachte der Konzern. Drei Umweltverbände klagten, und die kalifornische Wasserbehörde bestätigte die Vermutung, wonach Nestlé jahrelang drei Viertel zu viel Wasser abgezapft haben dürfte. Der Fall landete vor Gericht. Nestlé setzte sich mit der Ansicht durch, das Quellwasser legitim genutzt zu haben. Der Streit aber sei damit nicht beseitigt gewesen, räumen die Nestlé-Verantwortlichen ein. «Die Ungewissheit hing wie eine dunkle Wolke über unseren Köpfen», sagt Larry Lawrence. «Wir hielten uns wohl zu stark zurück. Ich bin froh, dass wir aktiver geworden sind.»

Brabecks belastende Aussage

Die Quellwasser-Strategie habe den Konzern zum Handeln gezwungen, erklärt Jason Morrison, Präsident des auf Gewässerschutz spezialisierten Pacific Institute. «Nestlé muss sich in jenen Gemeinden, in denen die Firma Wasserquellen besitzt, als gute Bürgerin bewähren. Wenn sie das nicht tut, so wird sie den Zugriff auf das Wasser über kurz oder lang verlieren.» 2005 hatte der damalige Nestlé-Konzernchef Peter Brabeck-Letmathe weltweit für Entrüstung gesorgt mit seiner Ansicht, Wasser sei kein Grundrecht der Menschen, sondern schlicht ein kommerzielles Gut.

Diese Aussage trübe das Image des Unternehmens bis heute, sagt Morrison. Als Zeichen der Einsicht will Nestlé nun als erster Wasserkonzern alle seine Quellen weltweit gemäss dem Standard der Alliance for Water Stewardship zertifizieren lassen. «Sie geben damit die Richtung für Konkurrenten vor. Das ist zu begrüssen», so Morrison. «Aber die Logik dahinter ist klar eine unternehmerische. Sie wollen sich langfristig die Wasserquellen sichern und sind deshalb daran, als Erstes das eigene Haus in Ordnung zu bringen.»

In den Bergen von San Bernardino sieht sich Nestlé auf sicherem Grund. «Wir wissen dank unseren Messungen, dass der Wasserfluss seit 1949 ziemlich konstant geblieben ist», sagt Lawrence. «Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir die Probezeit bestehen und anschliessend eine definitive Lizenz bekommen.»

Die Umweltverbände geben sich nicht geschlagen. Die Probezeit werde zeigen, dass der Wasserhaushalt wegen Nestlé aus dem Gleichgewicht geraten sei, sagt Ileene Anderson vom Center for Biological Diversity. «Es ist eine Tragödie, dass Nestlé die Bäche leer saugt und Pflanzen und Tiere bedroht, die seit Tausenden von Jahren auf das Wasser angewiesen sind.» Der Kampf sei nicht vorbei. «Wir hoffen, dass die definitive Lizenz verweigert wird.»

Artikel aus Der Bund (15.10.2018)