Nach einem tragischen Todesfall wurde die Räumung des Hambacher Forsts letzte Woche für einige Tage ausgesetzt. Seit Montag wird wieder geräumt, doch der Widerstand wird noch lange anhalten.
Artikel in der WOZ (27.9.2018)
Ordnung muss sein: Mittlerweile sind die Barrikaden geräumt und fast alle Baumhaussiedlungen (wie hier Beechtown) zerstört.
«Ich habe genug gesehen», sagt ein Kameramann mit leerem Blick und feuchten Augen, als er sein Zeug zusammenpackt. Neben ihm gehen ein paar weitere Presseleute nervös auf und ab, in einem mit Flatterband umrahmten Bereich rund zwanzig Meter vor der Baumhaussiedlung namens Beechtown. Dort halten Polizisten dunkle Planen hoch, um die Sicht auf jene Stelle zu verdecken, wo Sanitäter gerade einen Menschen zu reanimieren versuchen. Es ist Mittwoch, der 19. September, gegen 16 Uhr. Vor zehn Minuten ist jemand von einer Hängebrücke aus geschätzt zwanzig Metern Höhe auf den Waldboden gestürzt.
Nach einer turbulenten Woche ist dies der Moment, in dem der Hambacher Forst plötzlich stillsteht. Der Motorenlärm der schweren Hebebühnen verstummt. Vereinzelt bellen Polizeihunde, aus der Höhe ist zwischendurch ein Schluchzen zu vernehmen. Der Rettungshubschrauber landet am Waldrand gleich nebenan, an der Kante des riesigen Braunkohletagebaus, dem der Wald bald weichen soll. «Verpisst euch!», schreit ein Aktivist von oben herab einen Polizisten an, der sich an die BaumhausbewohnerInnen zu wenden versucht. «Denkt ihr, das wäre passiert, wenn ihr nicht hier wärt?»
Etwa zwei Stunden später dann die Gewissheit: Die gestürzte Person ist tot, wie ein Pressesprecher der Polizei Aachen an einer improvisierten Pressestelle bekannt gibt. «Ein junger Mann, der das Leben der Aktivisten oben in einem sogenannten Baumhaus dokumentierte, ist dabei ums Leben gekommen», erläutert er. Das alles sei sehr tragisch, und er müsse «betonen, dass dieser Unglücksfall in keinem Zusammenhang steht mit polizeilichen Arbeiten hinsichtlich der Räumung». Etwas später wenden sich draussen vor dem Wald auch vier AktivistInnen an die Medien, teils unter Tränen. Über die genauen Umstände wisse man derzeit zwar noch nichts, und die Schuldfrage sei zu diesem Zeitpunkt auch überhaupt nicht angebracht. «Von aussen betrachtet war es eine extreme Stresssituation», hält aber eine der AktivistInnen fest, «eingebettet in den Irrsinn dieses Einsatzes der Räumung, der nun schon seit einer Woche andauert.» Man fordere jetzt «einen Moment der Ruhe und des Friedens für die Bewegung, für alle Beteiligten, für alle Menschen.»
Deutschlandweit umstritten
Tatsächlich kehrt für eine Weile etwas Stille in den Hambacher Forst ein. Fast vierzig der insgesamt über fünfzig Baumhauskonstruktionen sind zu diesem Zeitpunkt bereits zerstört. Entstanden waren sie in den letzten sechs Jahren, seit sich immer mehr ÖkoaktivistInnen hier niedergelassen haben, um die Abholzung durch den Energiekonzern RWE zu verhindern. Zum einen, weil der urwüchsige Wald Lebensraum bedrohter Tierarten ist – von einst etwa 5000 sind heute bloss noch rund 200 Hektaren übrig, und die Hälfte davon soll in der kommenden Rodungssaison ab Oktober ebenfalls verschwinden. Zum andern aber auch, um das Abgraben von Braunkohle, der dreckigsten aller Energiequellen, zu verhindern. Die Waldrodung ist deutschlandweit umstritten: In einer Umfrage sprachen sich jüngst drei Viertel der Befragten in ganz Deutschland dagegen aus. Mehrere Firmen zogen zudem Gerätschaften zurück, die zu Räumungszwecken angemietet worden waren.
Aber der Wald gehört seit über vierzig Jahren RWE. Der Konzern macht geltend, dass die Stromversorgung Nordrhein-Westfalens (NRW) gefährdet wäre, sollte der Tagebau nicht plangemäss erweitert werden. Dem widersprechen verschiedene Studien, genauso wie der Behauptung von RWE, die Rodung sei aus betrieblichen Gründen zwingend noch in diesem Jahr nötig. Die Vermutung liegt nahe, dass der Konzern möglichst rasch noch Tatsachen schaffen will, bevor die auf Bundesebene eingesetzte «Kohlekommission» die Braunkohleförderung einschränken könnte. RWE bangt um vier bis fünf Milliarden Euro Profit, die man sich vom Abbaggern der verbliebenen Waldfläche erhofft. Und bislang kann sich das Unternehmen in NRW auf Politik und Behörden verlassen: Unter dem Vorwand, der Brandschutz sei in den Baumhäusern nicht gewährleistet, veranlasste das Bauministerium am 13. September die Räumung. Bis zu 4000 PolizistInnen aus mehreren Bundesländern sind seither im Schichtbetrieb aufgeboten. Zeitweise wurde der ganze Wald hermetisch abgeriegelt. Womöglich ist es der teuerste und längste Polizeieinsatz in der Geschichte von NRW.
Am Tag nach dem Unglück ist es hingegen auch Menschen ohne Presseausweis erlaubt reinzukommen. Die Räumung ist ausgesetzt. Noch immer belagern viele PolizistInnen die Waldwege, doch von den Baumhäusern halten sie sich fern. So auch von der Siedlung namens Cozytown, wo eine Handvoll AktivistInnen die plötzliche Ruhe dazu nutzen, um ihr letztes verbliebenes Baumhaus instand zu halten. Der untere Teil ist mit Baumstämmen und Ästen verbarrikadiert, darüber befindet sich eine Plattform, die mit einer hochziehbaren Wendeltreppe aus Holz zu erreichen ist. Oben hängen Hängematten: Sie sind an Seilen befestigt, die vom Baumhaus weg über Dutzende Meter durchs Geäst gespannt sind. Würden sie durchtrennt, um schwerem Räumgerät den Zugriff aufs Baumhaus zu ermöglichen, stürzten Menschen aus den Hängematten etliche Meter in die Tiefe.
Es ist nur eine von vielen schlau konstruierten Fallen im ganzen Wald, mit denen die BesetzerInnen der Polizei ihren eigenen Körper entgegenstellen; am selben Ort musste gestern etwa auch ein Aktivist aus einem fünf Meter tiefen Erdloch geholt werden, das jetzt gut sichtbar mit Beton versiegelt ist. Das Kalkül: Wo sich Leute unter der Erde aufhalten, muss schweres Räumgerät fernbleiben. Auch weil die Abgase von Fahrzeugen und Kettensägen in die Tunnel sinken und dort den Sauerstoffgehalt drastisch verringern. «Es ist schon krass», sagt ein Aktivist, der gerade Esswaren entgegennimmt, die eine Frau aus einem Nachbardorf in den Wald gebracht hat: «Wir leben in einer Gesellschaft, in der man gar nichts mehr bewirken kann, ohne sich selbst in Lebensgefahr zu bringen.»
Vorbei ist gar nichts
Nach dem Unglück in Beechtown sei die Räumung zwar auch hier abgebrochen worden, aber die Polizei habe später einen Wagen mit riesigen Scheinwerfern vor das Baumhaus gestellt und zwei Beamte dazu. «Gute Nacht», hätten sie gesagt und das Flutlicht angeworfen. Richtig geschlafen habe von den zwei Dutzend Menschen in den Hängematten in dieser Nacht niemand, sagt eine Besetzerin. Auch andere berichten von nächtlichen Einschüchterungspraktiken. Gegen aussen rechtfertigt die Polizei ihr Vorgehen, indem sie die AktivistInnen als LinksterroristInnen darstellt.
Der tödlich verunglückte Steffen Meyn gehörte nicht zu jenen AktivistInnen, die ihr Leben für den Erhalt des Waldes aufs Spiel zu setzen bereit sind. Aber er war mit vielen von ihnen befreundet. Und auch er wollte den Wald erhalten, wenn nicht physisch, dann zumindest virtuell: Ständig habe er eine 360-Grad-Kamera auf dem Kopf getragen, erzählt eine gute Freundin des 27-jährigen Künstlers und Journalisten. Seit über einem Jahr habe er die AktivistInnen immer wieder besucht, und er habe nicht nur den Kampf gegen die Rodung unterstützt, sondern auch den Gesellschaftsentwurf der BesetzerInnen: Sie leben hierarchiefrei zusammen, möglichst weit abseits aller Zwänge von Kapitalismus, Konsumismus und Gendernormen. Meyn sei bei allen im Wald beliebt gewesen, ein sozialer Knotenpunkt, auch viele PolizistInnen hätten ihn geschätzt. Weit über hundert Menschen strömten am Donnerstag vergangener Woche an Polizeiketten und an einer Reiterstaffel vorbei in den Wald, um an einer stillen Gedenkkundgebung am Unglücksort teilzunehmen.
Die Ruhe währte nicht lange. Schon tags darauf wurden wieder Barrikaden geräumt und seit Montag auch Baumhäuser. Bis Mittwoch waren fast alle Siedlungen zerstört. Vorbei ist aber noch gar nichts: Letzte Woche wurde in Manheim, das in wenigen Jahren dem Hambacher Tagebau zum Opfer fallen soll, ein Klimacamp eröffnet. Bis Ende Oktober ist es Anlaufstelle und Rückzugsort für alle, die sich RWE auch während der Rodungssaison in den Weg stellen wollen. Weiterhin finden sonntags sogenannte Waldspaziergänge statt, die von Tausenden BraunkohlegegnerInnen besucht werden. Verschiedene Umweltorganisationen haben für den 6. Oktober zu einer Massenaktion des zivilen Ungehorsams aufgerufen, zu der mindestens 10 000 Leute erwartet werden. Und vom 26. bis 29. Oktober hat auch das Aktionsbündnis Ende Gelände eine Intervention im rheinischen Braunkohlerevier angekündigt. Der Widerstand im Hambacher Forst ist längst noch nicht gebrochen.
Artikel WOZ (27.9.2018)
SCHWEIZER GELD FÜR RWE: UBS an der Spitze
Eine Woche zuvor besuchten UmweltaktivistInnen die Firmensitze der Schweizer Grossbanken UBS und Credit Suisse in Basel, wo sie Äste in die Filialen legten. Beide Banken haben RWE in den letzten Jahren mit Krediten versorgt. Besonders aktiv war dabei die UBS, die laut der Organisation Banktrack sogar den Spitzenplatz unter allen internationalen Banken belegt. Sie hat RWE in den vergangenen Jahren langfristige Kredite von über einer halben Milliarde Franken beschafft, die Credit Suisse über 100 Millionen.
Beide Banken haben vor rund zwei Wochen auch einen Brief von grossen Umweltorganisationen erhalten. Darin werden sie aufgefordert, ihre Geschäftsaktivitäten zu überdenken und «dringend» beim Energiekonzern zu intervenieren, damit dieser von der Rodung vorerst absehe. Es gelte, einen irreversiblen Schaden zu verhindern und den Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen. RWE sei der grösste Umweltverschmutzer Europas. Wer in die Firma investiere oder sie mit Finanzdienstleistungen unterstütze, setze sich einem beträchtlichen Reputationsrisiko aus.