10 Jahre nach der Tragödie von Rana Plaza hat sich in der Textilindustrie wenig getan

Der Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch jährt sich am 24. April 2023 zum zehnten Mal. Das tragische Ereignis hat der Welt vor Augen geführt, unter welch skandalösen Umständen die Kleider produziert werden, die wir alle tragen. Seither hat sich Einiges verbessert, doch die Bekleidungsindustrie ist nach wie vor geprägt vom globalen Wettlauf nach unten: immer mehr, immer billiger. Um diesen Irrsinn zu stoppen, braucht es politische Leitplanken – auch in der Schweiz.

Artikel von Public Eye (24.4.2023)

Wo vor zehn Jahren 1138 Menschen ums Leben kamen, ist längst der Alltag eingekehrt: Strassenküchen bieten Bananen und andere Lebensmittel an, auf dem Gelände der eingestürzten Fabrik Rana Plaza in Savar nahe der bangladeschischen Hauptstadt Dhaka wuchert das Grün. Die gewaltige Menge Schutt und Kleider, die von der Katastrophe übrigblieb, haben die Behörden längst in einer riesigen offenen Deponie entsorgt. Doch «aus den Augen, aus dem Sinn», das funktioniert hier nicht: Rana Plaza hat sich tief ins kollektive Gedächtnis der Menschen in Savar eingebrannt. Entsorgt wurde der Schutt, aber die Sorgen, die verschwanden nicht, im Gegenteil.

Rund 2000 verletzte Arbeiter*innen überlebten die Katastrophe vom 24. April 2013 zwar. Doch sie leiden noch heute an den gesundheitlichen und sozialen Folgen des Einsturzes, ebenso wie die Familien der 1138 Opfer, die in den Trümmern starben, keinen Tag verbringen, ohne an die Tragödie zu denken.

Der Bangladesh Accord – ein Meilenstein

Das bislang düsterste Kapitel in der Geschichte der Bekleidungsindustrie führte im Mai 2013 zum Abkommen über Brand- und Gebäudesicherheit, dem «Accord on Fire and Building Safety in Bangladesh». Die von Public Eye mitgetragene Clean Clothes Campaign (CCC) unterzeichnete das Abkommen als Zeugin und nahm in der Umsetzung eine kritische Beobachterinnenrolle ein.

Der Accord hat die Sicherheit in den Textilfabriken Bangladeschs wesentlich verbessert. 2018 wurde das Abkommen um weitere drei Jahre verlängert, Ende Mai 2021 lief es aus. Dank zähem Kampf von internationalen Gewerkschaftsverbänden sowie Unterzeichnerorganisationen wie der Clean Clothes Campaign ist seit dem 1. September 2021 ein neues, internationales Abkommen in Kraft.

Die Entschädigungen reichen nirgends hin

Unmittelbar nach Bekanntwerden des Einsturzes wurde von der Clean Clothes Campaign und weiteren Organisationen der Zivilgesellschaft die Kampagne für eine vollständige und gerechte Entschädigung der vom Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes betroffenen Familien initiiert. Die Kampagne forderte Modeunternehmen und Einzelhändler immer wieder dazu auf, über wohltätige Spenden hinauszugehen und konkrete Massnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Familien der Verstorbenen durch den Einsturz nicht in noch grössere finanzielle Notlage gedrängt würden und dass die Tausenden von Verletzten die notwendige medizinische Versorgung erhalten.

Als Ergebnis dieser Kampagne und auf Druck von Regierungen und internationalen Organisationen kam es zu Verhandlungen, und das Rana-Plaza-Entschädigungs-Abkommen wurde geschlossen.

Die Überlebenden haben jedoch nur geringe Beträge erhalten, und das auch für die lokalen Verhältnisse. Die Kosten von medizinischen Behandlungen wurden und werden zudem nicht vollständig übernommen.

Deshalb kämpfen die in ihrer grossen Mehrheit weiblichen Überlebenden noch immer mit den Spätfolgen der Katastrophe (siehe Porträts und Video weiter unten). Die Gesamtsumme, die Überlebende und Angehörige von Toten in den letzten zehn Jahren erhalten haben, beträgt laut der lokalen Zeitung «Dhaka Tribune» weniger als 40 Millionen US-Dollar.

Ein Grund für die unzureichenden Entschädigungszahlungen ist, dass das internationale Übereinkommen, auf das sich das Verfahren stützt, nur die Entschädigung für Einkommensverluste abdeckt, nicht jedoch für Schmerzensgeld. Ausserdem basierte die Berechnung auf dem Armutslohnniveau der Bekleidungsindustrie. Es ist daher von grösster Bedeutung, für existenzsichernde Löhne zu kämpfen.

Skrupellose Fabrikbosse noch immer nicht verurteilt

Gemäss der Menschenrechtsorganisation Business & Human Rights Resource Centre demonstrierten die Überlebenden des Rana-Plaza-Gebäudeeinsturzes im April 2022 in Savar, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, darunter eine lebenslange Entschädigung für die verletzten Arbeiter*innen. Weiter fordern sie die Rehabilitierung der Arbeiter*innen, lebenslange Behandlungsmöglichkeiten, die Sicherstellung einer maximalen Bestrafung und die Beschlagnahmung des Eigentums all jener, die für den Vorfall verantwortlich sind, sowie die Ausrufung des 24. April als «Tag der Arbeitermorde».

Was für die Opfer von Rana Plaza besonders schlimm ist: Diejenigen, die des Mordes angeklagt wurden, weil sie die Arbeiter*innen in das Gebäude zurückgedrängt hatten, wurden zwar angeklagt, jedoch noch nicht verurteilt. Einen Tag vor dem Einsturz von Rana Plaza hatten Behörden zur Schliessung des Gebäudes aufgefordert. Die im Gebäude eingemieteten Geschäfte und eine Bank waren der Aufforderung unmittelbar nachgekommen, die Besitzer*innen der Textilfabriken im oberen Teil des Gebäudes hingegen haben die Textilarbeiter*innen unter Druck gesetzt, weiter zur Arbeit zu gehen. Wenige Stunden später brach das Gebäude zusammen.

Wie geht es Arbeiter*innen, die den Fabrikeinsturz überlebt haben, 10 Jahre danach? Welche Botschaften haben sie und Aktivist*innen vor Ort an Modemarken in Europa und der Schweiz?

Was hat Rana Plaza in der Industrie ausgelöst?

Rana Plaza wurde auch von Industrie und Politik als Weckruf verstanden, so haben etwa die G7 den Fabrikeinsturz zum Anlass genommen, um bessere Arbeitsbedingungen und einen dauerhaften Entschädigungsfonds für Fabrikunfälle zu fordern. Doch von den damaligen Statements ist wenig übriggeblieben, die Industrie ist schnell wieder in den Business-as-usual-Modus übergegangen, und umfassende internationale politische Vorstösse sind ausgeblieben.

Auch das Geschäftsmodell der Branche ist im Wesentlichen gleichgeblieben. Die Bekleidungsindustrie ist nach wie vor geprägt vom globalen Wettlauf nach unten: immer mehr, immer billiger.

Textilien sind der mit Abstand wichtigste Wirtschaftszweig in Bangladesch, dem weltweit zweitgrössten Exporteur nach China. Die Bekleidungsindustrie macht 90% der Exporte aus, weshalb das Land von den Aufträgen grosser internationaler Modeunternehmen stark abhängig ist.

2018 erhöhte die Regierung den seit fünf Jahren unveränderten monatlichen Mindestlohn für die Branche zwar von 5300 auf 8000 Taka, knapp 70 Schweizer Franken (Stand Mitte März 2023). Doch diese Erhöhung lag weit unter der Forderung der Gewerkschaften von 16000 Taka, weshalb nach Bekanntgabe des neuen Mindestlohns Anfang 2019 Tausende von Arbeiter*innen auf die Strasse gingen und mindestens 16’000 Taka forderten. An einer gewalttätigen Auseinandersetzung, bei der die Polizei Gummigeschosse, Tränengas und Wasserwerfer einsetzte, um die Menschenmenge zu zerstreuen, wurde gemäss der Menschenrechtsorganisation Business & Human Rights Resource Centre eine Person getötet, 50 weitere wurden verletzt.

Im Herbst 2023 steht erneut eine Lohnverhandlungsrunde an. Die Gewerkschaften fordern aktuell 22’000 bis 25’000 Taka. Die Nichtregierungsorganisation Asian Floor Wage hat 2022 berechnet, dass ein existenzsichernder Lohn sogar bei rund 53’000 Taka liegen müsste. Fabrikbesitzende behaupten, sie könnten das nicht finanzieren. Doch die grossen Modeunternehmen haben die Mittel und sollten eine gemeinsame öffentliche Erklärung abgeben, in der sie die Erhöhung unterstützen und ihre Einkaufspraktiken entsprechend anpassen. Zudem ist der Abstand von fünf Jahren zwischen den Mindestlohnrevisionen viel zu lang angesichts der Inflation. Die Überprüfungen sollten häufiger vorgenommen werden.

Seit mehr als 20 Jahren gibt es vielfältige freiwillige Brancheninitiativen, Programme und Standards, die ihren erklärten Zielen zufolge zu mehr Nachhaltigkeit führen sollen. Doch die Bilanz ist ernüchternd: Ambitioniertere Initiativen verharren in Nischen, andere schaffen es noch nicht einmal, niedrig gesteckte Standards effektiv umzusetzen. Diese haben sich für Modeunternehmen in erster Linie als eine weitere Möglichkeit erwiesen, ihren Ruf zu verbessern, anstatt wirklich Massnahmen zu wichtigen Themen wie Löhnen und der Repression von Gewerkschaften anzugehen. Der internationale Gewerkschaftsdachverband Ituc stuft in seinem Global Rights Index Bangladesch als eines der 10 schlimmsten Länder für Arbeiter*innen ein.

Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in globalen Lieferketten erfordert politisches Handeln und die Verankerung von verbindlichen Massnahmen, damit alle Unternehmen in ihren internationalen Lieferketten Menschenrechte einhalten, inklusive dem Recht auf einen Existenzlohn.
Artikel Public Eye (24.4.2023)